Wut essen Seele auf5 min read
Reading Time: 4 minutesein Gastkommentar von Joel Michel
Emotionen sind starke Triebfedern für politisches Handeln. Sobald jedoch nur noch Emotionen zum politischen Handeln motivieren, droht die Politik in Extreme abzudriften. Ein kritischer Essay zur Wut, der politischen Antriebsfeder des 21. Jahrhunderts.
Unserer Gesellschaft liegt eine Wut zugrunde, welche in den letzten Jahren immer häufiger zutage tritt: Reaktionäre und populistische Parteien erstarken überall in Europa und die Regierungen in Ländern wie Ungarn, Brasilien, Polen, China oder der Türkei werden zunehmend autoritär, oder drohen es zu werden. Der Bund erkennt sowohl in der links- als auch der rechtsextremen Szene ein erhöhtes Gewaltpotential, während gleichzeitig ein dschihadistisch motivierter Terror Europa destabilisiert. Demonstrationen und Proteste von der Klimabewegung, den Gilet-Jaunes, von antirassistischen und anarchistischen Bewegungen bis hin zur Pegida, gehören inzwischen zum Alltag. Die Menschen sind wütend. Woher diese Wut kommt und wohin dieser Weg führt; davon handelt dieser Essay.
In den laufenden politischen, medialen und gesellschaftlichen Debatten werden nicht nur extreme Missstände angeprangert, sondern mindestens ebenso viele Verantwortliche gefunden. Für jedes Problem findet sich zugleich der passende Täter: Arbeitsplätze sind in Gefahr, die Schweiz wird zubetoniert, die Finanzierung der Sozialwerke ist instabil, der Verkehr ist überlastet? Ausländer sind schuld! Stress am Arbeitsplatz? Das liegt am Neoliberalismus! Es liegt entweder an den Rechtsextremen, den «Links-grün-versifften», den Muslimen, oder an den Konservativen, den Studenten, den alten weissen Männern, den lesbischen Frauen – an jeder Ecke scheint jemand zu lauern, der unser System, unseren Staat, unsere Demokratie, unsere Werte, unsere Persönlichkeit, unsere Menschenwürde angreift.
Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen führen in den meisten Fällen dazu, dass irgendeiner Gruppe eine Schuld zugewiesen wird – und ihr somit das Recht auf Selbstverwirklichung aberkannt wird. Die kontroverse politische Frage scheint zu sein, welches Kollektiv seine Identität bewahren darf. Inmitten all dieser Debatten wird zunehmend unklar, wer denn jetzt genau Opfer und Täter sein soll. Der gegenseitige Respekt und die gegenseitige Anerkennung scheinen jedoch einer grossen, permanenten Wut gewichen zu sein. Denn unabhängig von der eigenen Position, sollte man eines erkennen können: Vielen Menschen scheint es übel zu gehen. Und die meisten Menschen sind sehr wütend über diesen Umstand.
The world is changing rapidly, Into much uncertainty.
Diese Wut basiert auf Unsicherheit. Viele Menschen fühlen sich entfremdet, wissen nicht, wohin mit sich und erkennen nicht mehr, wohin die Gesellschaft steuert. Der Grund dafür ist banal: Unserer Gesellschaft ist die Richtung abhanden gekommen. Der isländische Musiker Ásgeir beschreibt diesen Zustand treffend mit folgenden Worten: The world is changing rapidly, into much uncertainty. Über genau diese Neuausrichtung wird jetzt (sehr wütend) verhandelt, gestritten und debattiert.
Die Welt vollzieht zur Zeit einen extremen Wandel: Die globalen Machtgefüge haben sich durch den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas oder der Etablierung der Türkei als neue Macht zwischen dem Orient und Okzident verändert. Die Digitalisierung und der damit einhergehende Wandel aller Lebensbereiche zieht immer noch wie ein unaufhaltsamer Sturm über die Welt. Wirtschafts- und Finanzkrisen erschütterten den kollektiven Glauben an eine stabile und hoffnungsgebende Wirtschaft. Neue Geschlechter- und Rollenbilder sind entstanden und somit auch neue Machtgefüge. Die zunehmende Ungleichheit der Vermögensverteilung schafft immer grössere soziale und politische Probleme und nicht zuletzt stellt ein gewisses Coronavirus die Krisenresistenz der gesamten menschlichen Zivilisation auf die Probe. Nur, um einige Entwicklungen zu nennen.
Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.
Mark Twain soll einst gesagt haben: «Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.» Trotzdem wage ich es an dieser Stelle, eine Prognose aufzustellen: Wenn wir nicht lernen, unsere Wut zu beherrschen, wird die Wut uns beherrschen. Bereits jetzt handeln wir wie ein in die Enge getriebenes Tier, welches als letzte Überlebensmöglichkeit nur noch den Kampf sieht. Wir sind in die Enge getrieben, doch die Wut treibt uns immer noch an. Unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten scheinen uns durch eine kafkaeske Bürokratie, eine alles-umfassende Weltwirtschaft, omnipräsente Medien, durch unsichtbare Daten- und Kapitalströme, Algorithmen und Maschinen genommen worden zu sein. Unsere Leben scheinen strukturiert zu werden, ohne dass wir selbst Einfluss auf diese mächtigen Strukturen nehmen können. Wir sind wütend, weil wir unsere Lebenswelt(en) kaum mehr aktiv mitgestalten können. Für viele Menschen erscheint die Wut als letzte und einzige Handlungsoption, welche uns aus dieser scheinbar ausweglosen Situation zu retten vermag. Die Realität drängt uns in eine Ecke und wir versuchen, aus dieser Realität auszubrechen, um eine neue Realität zu gestalten.
Die einfachste und zugleich die gefährlichste Möglichkeit der Wut zu entkommen, ist die Wut auszuleben. Wut als Reaktion auf Wut wird jedoch nur zu Leid, Zorn, Hass und noch Schlimmerem führen. Die Wut macht uns empfänglich für populistische und radikale Lösungen, für Feindbilder und für die Instrumentalisierung durch die Politik. Die Wut bietet Zuflucht vor einer Welt, welche uns selbst keine Zuflucht mehr bieten kann. Die Wut kennt schliesslich keine Freunde, sondern nur Feinde. Wer nur noch Feinde kennt, lässt sich leichter extremisieren, für militärische Zwecke einspannen, ist autoritätsgläubiger, gewaltbereiter und aggressiver. Pankaj Mishra beschreibt in seinem Werk «Zeitalter des Zorns» genau, wie in einer solchen entfremdeten, verlorenen und wütenden Gesellschaft schliesslich der Keim für zwei Weltkriege gelegt wurde.
Die Zukunft findet immer schon statt
Wir sind der ungewissen Zukunft jedoch nicht ausgeliefert. Wir können sie jeden Tag aktiv mitgestalten. Durch unseren Konsum, unser Wahlverhalten, durch unternehmerische Tätigkeiten, durch das Führen kritischer Diskussionen und dem Schreiben kritischer Artikel gestalten wir die Zukunft jeden Tag ein wenig mit. Was wir ebenfalls können, ist zu akzeptieren, dass die eigene Hilflosigkeit, die eigene Wut, nicht die Schuld einer einzelnen spezifischen Gruppe ist, sondern eine Folge der gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahrzehnte. Das Verloren-Sein ist wohl eine unumgängliche Begleiterscheinung dieser Entwicklungen. Die Wut jedoch nicht: Wir können nämlich aktiv gegen die Wut vorgehen, uns darin üben, weniger in Feindbildern zu denken und anfangen, Politik für-, statt gegeneinander zu betreiben.
Die Geschichte kennt keine Zwangsläufigkeiten. Die Wut jedoch schon. Wir sollten uns fragen, ob wir bereit sind, den Weg der Wut einzuschlagen.
Interessante Notiz zum Titel: Der Autor ist sich bewusst, dass das Verb «Essen» eigentlich anders konjugiert werden würde. Die Filmfreaks werden aber wahrscheinlich die Anspielung auf den Filmtitel «Angst essen Seele auf» erkannt haben.
Bild: Amine M’Siouri. Online