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Corona und Menschenrechte – beschnitten oder bloss tangiert?4 min read

10. Dezember 2020 3 min read

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Corona und Menschenrechte – beschnitten oder bloss tangiert?4 min read

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ein Gastkommentar von Remo Bucher

 

Das Jahr hat nur eine begrenzte Anzahl Tage. So erstaunt es kaum, dass fast jeder Tag einem bestimmten Thema oder einer besonderen Sache gewidmet ist. Wusstest Du etwa, dass sich heute der internationale Tag der Menschenrechte bereits zum 72. Mal jährt? Es lohnt sich, einige Gedanken über deren heutigen Stellenwert anzustellen, insbesondere im momentanen Coronajahr.

 

Als Bürgerin und Bürger eines europäischen Landes vergisst man zuweilen, wie revolutionär und, angesichts der Barbarei des Zweiten Weltkrieges, notwendig dies damals war. Trotz ihres nicht verbindlichen Charakters haben viele der 30 Menschenrechtsartikel in zahlreiche Verfassungen oder Grundgesetze etlicher Nationen unverändert oder leicht angepasst Eingang gefunden. So erscheinen insbesondere für jüngere Personen in Industriestaaten die Schaffung, Achtung und Anerkennung von Menschenrechten als selbstverständlich und quasi «von Natur aus» gewährleistet. Doch sind es stets die Staatsbürger selbst, die im freiheitlich-demokratischen Kontext für das jeweilige Ausmass der Verwirklichung von Menschenrechten verantwortlich sind.

 

Demonstrationen und Massnahmen

 

Im aktuellen Krisenjahr gab es im Zuge der Pandemiemassnahmen gehäuft Anschuldigungen und gehässige Wortmeldungen, die den jeweiligen Regierungen eine starke Beschneidung oder Einschränkung von Grund- oder Menschenrechten unterstellten. So gab es während der letzten Monate bei zahlreichen Demonstrationen von sog. Corona-Querdenkern Proteste gegen staatliche Gesundheitsschutzmassnahmen, die sich teilweise mit Rechtsextremen und Verschwörungs-theoretikern zu regelrechten «Staatskritikern» und «Freiheitskämpfern» vermischten.

Dies veranlasst zu einem kurzen «Check-Up», wie es momentan um die Menschenrechte in der Schweiz und unseren Nachbarländern gestellt ist und ob ein Blick auf andere Nationen womöglich die eigenen Bedenken etwas zu senken vermag.

 

Am Beispiel der vielerorts umstrittenen Pflicht zum Maskentragen lässt sich anschaulich zeigen, wie verschiedene Grundrechte zusammentreffen und miteinander in Konflikt geraten können. Einerseits schränkt sie die individuelle Freiheit eines jeden ein, sich nach eigenen Vorstellungen und Wünschen bekleidet in der Öffentlichkeit fortzubewegen. Andererseits verhilft sie, sofern deren Anwendung fachgerecht erfolgt, nachweislich das Übertragungsrisiko zu verringern und so etwaige Verletzungen des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit vieler Menschen zu verhindern. Auch die Pflicht, private Anlässe möglichst im Kleinstrahmen zu belassen und häufige Sozialkontakte zu vermeiden, betrifft augenscheinlich das Recht auf individuelle Freiheit und den Schutz des Privatlebens. Doch auch hier ist stets das grössere, konträre Ziel in Erinnerung zu rufen: das Recht auf Leben zahlreicher anderer Menschen. Daher gehen meiner Meinung nach die zunehmend emotionaler und irrationaler werdenden Diskurse bezüglich der grundrechtsverletzenden Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in zweierlei Hinsicht gänzlich fehl.

 

Globale Sicht der Menschenrechte

 

Erstens relativiert ein Blick «über den Tellerrand» auf Länder, in denen etliche der bei uns seit Jahrzehnten geltenden Menschenrechte weit weg von einer Verwirklichung stehen, die eigene Sichtweise auf unsere Situation. In Eritrea herrschen Folter, Zensur und prekäre Haftbedingungen, in China werden religiöse und ethnische Minderheiten interniert, illegale Organtransplantationen durchgeführt und fundamentale Medien verboten, auf den Philippinen gehen Todesschwadronen ohne rechtliche Verfahren gegen Drogensüchtige vor und in Lateinamerika sind Indigene nach wie vor Menschen «zweiter» Klasse. Die Aufzählung wäre schier endlos erweiterbar, was nur noch mehr die unsrige Sonderstellung und Privilegierung herausstreichen würde. Die Tragweite der zuvor erwähnten Freiheitseinschränkung, die eine nicht bloss empfehlende, sondern verpflichtende Maskentragung bewirkt, verblasst vor diesem Hintergrund zur Marginalität. Deren Anprangerung als grundrechtsbeschneidenden Staatsakt verkommt zum Klagen auf hohem Niveau.

 

Menschenrechte im Aufeinandertreffen

 

Zweitens birgt das gesellschaftliche Miteinander gezwungenermassen ein komplexes Feld an ungleichartigen und entgegengesetzten Freiheits- und Gleichheitsrechten. Dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt, ist auch ausserhalb der Philosophie ein zutreffendes und prägnantes Leitmotiv im Rahmen von Freiheitsdiskussionen. Die Gewährung von Freiheiten bedingt so immer auch die (natürlich verhältnismässige) Begrenzung anderer Freiheiten. Die Schweizerische Bundesverfassung sieht etwa regelmässig vor, dass Grundrechtseingriffe in gewissen Umständen gerechtfertigt sein können (und vor allem müssen). Wenn wie aktuell eine neue Einschränkung in Gestalt der Maskentragepflicht eingeführt wird, gehen gerne die zahlreichen, seit Jahrzehnten bestehenden (und meist eingriffsintensiveren) Pflichten vergessen. Zu denken ist an Steuer- und Militärdienstpflichten, an Sicherheits- und Schutzvorschriften, an Verkehrs-, Sport- und Unternehmensregeln oder an strafrechtliche Bestimmungen.

Eine vollständige Freiheit besteht bereits seit Beginn der modernen Zivilisationen nicht mehr. Ob ein Wegfall dieser vielen Einschränkungen sich positiv auf das subjektive Freiheitserleben auswirken würde, kann bezweifelt werden. Gewiss, ohne Freiheit ist alles nichts. Doch wird sie grenzenlos, gilt alles und nichts zugleich.

 

Bild: Sora Shimazaki. Online

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