Dancefloor politics: Wo dürfen wir denn noch tanzen?5 min read
Reading Time: 4 minutesEin Rückblick ins New York der 70er zeigt auf: Öffentlicher kultureller Lebensraum und gesellschaftlicher Innovationsgeist gehen Hand in Hand. Durch die Schliessung von Clubs und Bars geht nun genau dieser Raum verloren. Droht nun ein kultureller Stillstand? Unser Gastautor Francisco Cortes ordnet die Situation ein.
Angesichts steigender Corona-Fallzahlen scheint die Aussicht auf eine Rückkehr in die Clubs immer weiter entfernt zu sein. In Zeiten der Pandemie scheint Tanzmusik und Feierstimmung unangebracht, vielleicht sogar obszön zu sein. Lässt sich daher behaupten, dass Raves ein Luxus sind, auf die man jetzt aus Solidaritätsgründen verzichten soll, oder lässt sich dort auch eine Widerstandskultur identifizieren, die jenseits der Kulturindustrie eine Stärkung des politischen Subjekts impliziert?
Mit dem Anwuchs der Pandemie wurde die stets wachsende Clubkultur massiv eingeschränkt. Das Absagen mehrerer Festivals, die Schliessung von Clubs sowie die Umplanung der Ferienpläne bereitet für viele Kulturfreunde eine Enttäuschung. Die Hoffnung nach einer Rückkehr in die Normalität besteht dennoch. Gleichzeitig tritt das Sehnen nach Alternativen stets immer mehr in den Vordergrund. In England und Frankreich kommt es erneut zum rechtsstaatlichen Eingriff in geheimen, versteckten Raves, die ohne Zustimmung der Autorität durchgeführt werden. Mittänzerinnen werden verhaftet und gebüsst. Der Ausdruck «illegal rave» tritt in den Alltagsjargon ein. Es ist ein moralisch geladener Begriff für eine unmoralisch gewordene Tätigkeit. Wie lässt sich eine solch wertende Behauptung umgehen?
Tanzen vor dem Bildschirm
Schulischer Unterricht, so lässt sich behaupten, ist mehr oder weniger digitalisierbar, insofern die technischen Mittel keine massive Einschränkung der Kommunikationsmittel mit sich bringen. Doch wie sieht es mit öffentlicher Tanzkultur aus? Lässt sich ein Konzert via Livestream ebenso ins Virtuelle übertragen wie ein Klassenzimmer? Was geht dabei verloren? Dürfen wir uns mit einem Live-Set auf «boilerroom.tv» begnügen, oder vermissen wir die Türsteherin mehr als wir gestehen möchten?
Was macht den Club zu solch einer sozial begehrten Institution? Ist es die regulierte Öffnungszeit? Die Autorität der Warteschlange? Die gezwungene Taschenkontrolle? Oder doch die Normalitätsmiliz, welche die Funktion der Türsteher ausdehnt und multipliziert? Ist es die Lautstärke der dröhnenden Boxen? Oder vielleicht sind es die persönlichen Beziehungen, die wir zu pflegen vermissen. Warum die Jugend die heutige Klubkultur Klubkultur so sehr schätzt, ist primär für Uninteressierte ein Mysterium. Wohl die wenigsten würden darauf verzichten, der gegenwärtigen Tanzkultur eine rituelle oder gar spirituelle Dimension zuzuschreiben. Doch jenseits der sozialen Bindung und kollektiven Gesinnung scheint Clubkultur auch etwas inhärent Politisches zu beinhalten: eine Form des Widerstands.
Disco für mehr Freiheit
Die Geschichte der Klubkultur lässt sich auf verschiedene Epochen und Bewegungen zurückführen, doch keine Vorströmung war so einflussreich wie die Discokultur von New York in den 70ern. Homophobie, Transphobie, Rassismus und soziales Vorurteil wurden weggetanzt und die Identitäten der ausgestossenen Individuen gestärkt. Discoclubs waren Lokale der Versöhnung, der Akzeptanz und der Liebe. Aus dieser Szene ist eine kulturelle Toleranz entsprungen, die den Weg bereiten durfte für eine Normalisierung von Queerness. Somit spielte Disco eine unabdingbare Rolle in der Stärkung von Subkulturen sowie Individuen. Lange Nächte, wo sich jede und jeder hineintanzen durften waren konstitutiv für eine neue soziale Bewegung, die gegen die Norm kämpfte – die der weissen Heteronormativität.
Billige Mieten und gesellschaftlicher Innovationsgeist
Die Tatsache, dass es solche Veranstaltungen überhaupt gab zu einer solchen Zeit der sozialen Repression (post-60s) war an sich schon ein Protest gegen die immer kleiner werdende Öffentlichkeitskultur: Ab den 70ern werden immer mehr öffentliche Räume privatisiert, von London über Paris bis New York. Der Trend ist heute bekannt, in Berlin werden die Proteste immer deutlicher: Mietpreise steigen, öffentliche Räume verschwinden und die Menschen wissen nicht wo hin sie gehen sollen. Ähnlich ging es London und New York gegen Ende der 70er.
Der Philosoph Mark Fisher identifiziert eine Korrelation zwischen der massiven musikalischen Innovation derselben Zeit mit einer erhöhten Anzahl an Besetzungen sowie billige Mietpreise und Sozialwohnungen.Wo viele Menschen aufeinandertrafen, dort wurde innoviert. Die Punk-Bewegung, die mitunter auf billige Musik-Probelokale angewiesen ist, könnte in heutigen Miethochpreis-Burgen wie London oder New York nicht mehr entstehen.
Die Punk-Bewegung, so Fisher, könnte heute niemals entstehen, zumindest nicht in London, wo Mietpreise zu hoch sind und Besetzung praktisch unmöglich geworden ist.
Digitaler Kulturraum
Die Privatisierung der Öffentlichkeit und die daraus resultierende soziale Isolierung potenzieller Innovatorinnen voneinander ist somit kein neues Problem. Doch die Digitalisierung scheint uns zumindest insofern nützlich zu sein, als dass sie Kulturschaffenden ein (cyber-)raum bietet, wo Informationen und Ideen ausgetauscht werden können. Unzählige digitale Subkulturen entstehen, die sowohl performativ wie auch formell an Protesten teilnehmen und mitmachen, mittels Inhaltszirkulation, Subversion und dem Schaffen neuer digitaler Kulturräume. Doch wie lässt sich ein digitaler Kulturraum physisch umsetzen? Hier haben wir es mit einer umgekehrten Fragestellung zu tun. Wichtig ist nicht, ob und wie sich Clubkultur digitalisieren lässt. Die wahrscheinlich relevanteste Frage ist, inwiefern die kulturellen Innovationen der digitalen Landschaft sich physisch in eine räumliche Widerstandspolitik übersetzen lässt.
Wenn und falls uns Corona jemals verlassen wird, so werden wir uns wieder in die Clubs begeben. Und dies wird wohl ein Moment der kollektiven Erleichterung sein – ein Grund zum Feiern eben. Doch selbst wenn wir die Hürden und Hindernisse dieser Coronakrise überwinden, die Problematik der Räumlichkeit wird uns weiterhin begleiten.
Die Frage, die uns bis dahin beschäftigen soll, ist nicht, ob wir tanzen dürfen. Die Frage soll sich nach dem Wo orientieren, denn eine Entdigitalisierung der Klubkultur wird wohl nicht neue Räume schaffen.
Tiefgang: What’s that? Jeden Monat beschäftigt sich das Team unserer Musikredaktion eingehend mit einem Thema, das uns beschäftigt. Unter der Kategorie «Tiefgang» erscheinen mehrere Artikel pro Monat, in denen sich unsere Autor*innen aus verschiedenen Blickwinkeln mit unserem Fokusthema auseinandersetzen.
Text: Francisco Cortes
Bild: Pexels