Ten swiss movies you probably haven’t seen – oder Schweizer Film: eine Entschuldigung?11 min read
Reading Time: 8 minutesArt. 71 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft:
1 Der Bund kann die Schweizer Filmproduktion und die Filmkultur fördern.
2 Er kann Vorschriften zur Förderung der Vielfalt und der Qualität des Filmangebots erlassen.
«Es ged zwei Arte vo Film. Es ged Film und es ged Schwizer Film und me weiss nie so gnau.. – de schwizer Film isch en Art Entschuldigung. „Entschuldigung, das isch en schwizer Film mier chönds ned so guet, aber auch du kannst noch Filme machen.“» , beklagt sich die Figur „Max“, gespielt von Max Rüdlinger in Clemens Klopfensteins Film; „Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche“, über den Stand des Schweizer Films. Und dies genau im Jahr 2005 vor dem finanziellen Höhepunkt des Schweizer Films 2006 mit einem Marktanteil von 10.9%. Jedoch spricht Max ein doch gängiges Bild des Schweizer Films an. Viele der schweizer Zuschauer denken bei Schweizer Film an nette Heimatfilme wie „Heidi“ oder „Ueli der Knecht“, oder zeitgenössischere Produktionen wie „die Herbstzeitlosen“ oder ganz aktuell „die göttliche Ordnung“ mit letzterer man sich gar eine Oscar-Nomination erhoffte, welche aber trotz des feministisch-politischen Kontexts des Filmes ausblieb.
Ich möchte mir aber innerhalb dieses Artikel die ebengenannten Filme kritisieren, nein mir geht es darum das Bild des schweizer Zuschauers über dessen lokale Filmszene, im besten Fall, zu erweitern, oder aufzufrischen, und vor allem aufzuzeigen dass es mehr gibt als SRF-Sonntagabendproduktionen, mehr als Coming-Of-Age-Filme über Sexting oder Drogenkonsum. Es gibt Schweizer Arthouse, und ich werde innerhalb dieses Artikels drei Regisseure, welche ich als massgebend in ihrer Zeit ansehe, betrachten und besprechen.
- Der Verschmelzende: Clemens Klopfenstein
In den 60-er Jahren erlebte der schweizer Film einen Tiefpunkt seiner Kulturgeschichte und dies, unter anderem, aktivierte einen Generationswechsel bei den Filmschaffenden. Somit generierte sich die Filmbewegung des jungen Schweizer Films der parallel zum „neuen deutschen Film“ und zur späten Nouvelle Vague entstand und sich auch stilistisch vergleichen lässt. In dieser Zeit konnten viele junge Regisseure Fuss fassen. Die experimentelle, oder avantgardistische Sparte dieser Bewegung in der Schweiz, war besonders durch die Gruppe AKS aus Biel geprägt, welche Clemens Klopfenstein mitbegründete. Ihr Kollektiv-Debüt; „Promenade en hiver“ spielte seine Premiere bereits an den Solothurner Filmtagen. Klopfenstein macht darauf in Zürich sein Diplom als Regisseur und Kameramann, und steht in den späten 60-ern u.a. für Markus Imhoof oder Markus P. Nester hinter der Kamera. Danach vollbringt Klopfenstein eigene Dokumentationen, Spielfilme oder Experimentalfilme.
Der erste und auch gleichzeitig der älteste Film den ich mir von Clemens Klopfenstein angeschaut habe, war der erste Teil seiner „Nacht- und Trance-Trilogie“, „Geschichte der Nacht“ (1979), ein Experimentalfilm, der für seine Zeit, sich einem noch sehr radikalen Minimalismus verschrieb und ausschliesslich stille Nachtaufnahmen zeigt. Der Film, von einem Journalist der „taz“ passend „Ambientfilm“ genannt, lief unter anderem an der „Art Basel“, an der „Documenta“ in Kassel und auch im „MoMA“ in New York. Durch seine fast schon naturalistische Filmweise, wird der Betrachter in das Geschehen hineingezogen. Er wird zum stummen Beobachter, der in Schatten und und Lichtern Formen zu erkennen beginnt. Innerhalb des Filmes ist kein ziehendes Narrativ vorzufinden, zwar kann der Zuschauer selbst in einigen mehr bewegten Sequenzen, sich figurativ identifizieren und somit Kürzestgeschichten schaffen, doch Klopfenstein nimmt durch die Heterogenität der Aufnahmen der Lokalitäten aus über 15 Ländern, gefilmt über den Zeitraum von mehreren Jahren, dem Zuschauer die Fähigkeit zu verknüpfen. Die einzige Parallele ist ein Inhalt des Titels selbst, nämlich die Nacht. Das verbindende Leitmotiv des Werkes ist die Dunkelheit und die Beobachtung und der verzweifelte Versuch des Zuschauers Geschichten in diese Nacht hineinzuschreiben, da er sich dieser Absenz eines Narrativs im Film meist nicht (oder noch nicht) gewohnt ist.
Ein weiterer herausragender Film des Regisseurs war für mich „E Nachtlang Füürland“ (1981) dieser Film, der erste Teil seiner „Improvisations-Trilogie“ zeichnet sich eben besonders durch diese improvisierte Natürlichkeit aus. Klopfenstein selbst sagt darüber: «Wir haben versucht, einen Augenblick, eine Nacht lang unser Umfeld wiederzugeben, die Menschen, denen wir in der Kneipe begegneten, sich selbst darstellen zu lassen. Hoffnungen und Wünsche im Bild festzuhalten, weil es im Film eher möglich ist als im Alltag. Wir haben unsere Zweifel und Verunsicherungen durch Max aussprechen lassen oder eben auch die Unfähigkeit, dies zu tun.», durch diese erneut, besonders bei einem narrativen Spielfilm, experimentelle Weise den Film zu strukturieren, entsteht eine grossartige Authentizität, welche besonders durch die verwendeten Schauspieler, von welchen die meisten sich selbst spielen, die freien und lockeren Dialoge in Dialekt, die passiv folgende Kameraführung und am allermeisten durch den im Nachtleben der Berner Unruhen der frühen 80-er herumschwirrenden Roten Faden des Films, entsteht. Dieser sehr freiheitliche und wirr erscheinende Film formt sich wunderbar in den zeitlichen Kontext der Berner Unruhen hinein. Egal ob in der Geschichte, oder in den Charakteren, überall, mit der Ausnahme der Hauptfigur „Max“ erneut gespielt durch Max Rüdlinger, herrscht Chaos. Der Protagonist, mit welchem sich der Zuschauer zu identifizieren versucht, wird mitsamt dem Publikum in jenes Tohuwabohu geworfen. Als Zuschauer wird man mitgerissen und stehen gelassen.
Grundsätzlich nimmt Klopfenstein immer wieder die Thematik des Filmemachens selbst auf, experimentiert mit Improvisationstechniken und lässt Realität und Fiktion, Elemente des dokumentarischen und des Spielfilms verschmelzen.
2. Der Kunstvolle: Peter Liechti
In Peter Liechti findet man eine weitere wichtige Figur der neuen Schweizer Kinobewegung nach der Flaute der 60-er Jahre. Und auch er, zwar auf eine andere Weise, experimentierte und provozierte mit neuen Ideen, Techniken und insgesamt, Herangehensweisen an den Schweizer Film, wie auch Klopfenstein dies tat. Dies zeigte sich erstmals in seinem dritten Film; Ausflug ins Gebirg (1986), für welchen er auch gleich den Förderungspreis seines Heimatkantons St. Gallen gewann. Dieser beginnt mit einer dokumentierten Reise in die österreichischen Alpen, entwickelt sich aber eingebunden in den sprachspielerischen Text, gesprochen von Liechti selbst, in dem er über die Berge flucht: «Der Berg zerstört meine Gedanken. Der Berg macht blöd.»
Es ist die Gegenüberstellung zu den Filmen Franz Schnyders aus den Fünfziger Jahren, die satirische Antwort auf Ueli der Knecht und Heidi. Der Anti-Heimatfilm. Die Antihaltung zum schweizerischen Drang und Selbstzwang in die Berge, das Muss des Genusses der Alpennatur, das verkrampfte Gesicht und die geschlossenen Lider der Bergsonne entgegengestreckt.
Hier vermischt Liechti bereits in ersten Versuchen essayistisches, dokumentarisches und auch reine Fiktion. Mit den rohen Super-8-Aufnahmen der Berge, verbunden mit halb gefühltem und halb inszeniert emotionalem Text. Eines der ersten Exemplare seiner selbstreflektiven „Textfilme“ .
Nach seinem ersten „Musikfilm“ Kick that Habit, und weiteren Filmen, mit dem explosiven Künstler Roman Signer, drehte Liechti seinen ersten und einzigen Spielfilm in relativ klassischer Form. Marthas Garten (1997). Doch auch in diesem Werk löst sich Liechti nicht gänzlich von seiner Form des „Textfilms“. Der gesamte Film ist begleitet, geführt und unterlegt mit einem Narrativ, gesprochen vom Protagonisten Stefan Kurt. Der Film erinnert in seiner Erzählweise und seinem sehr literarischen Stil, an Dürrenmatt, düstere Vorkommnisse, generelle Verwirrung der Figuren und auch des Zuschauers. Absurde Gespräche, absurde Charaktere. Der Film, in Schwarz-Weiss gehalten, erzählt von einem jungen Mann, Karl Winter, der in seiner Misere der Langeweile, nach dem regelmässigen Besuch in ein und dem selben Kaffee, auf der Strasse an die hübsche Martha heran läuft, die sich gerade über eine Leiche bückt, und bei seinem Erblicken rennend das Weite sucht. «Sie ist einfach weggelaufen, und ich, warum habe ich mich darauf eingelassen?» Allein steht er über dem liegenden Mann und reflektiert über seine Situation, wie er es den ganzen Film hinüber tut. Er entschliesst sich, es Martha gleichzutun und auch zu verschwinden. Im Verlauf des Filmes kommen sich die beiden in einer enorm rasanten Weise näher sie zieht unerwartet ein, er ist verwirrt. Durch den ganzen Film zieht sich das verwirrte und meist recht genervte Narrativ. Er nervt sich darüber dass er im Kaffee erkannt wird, er nervt sich über seine Nachbarn, über sich selbst und über Martha. Besonders in dieser Weise schimmert Liechtis, Schreibweise hervor, dieser leicht mokante aber gehässig, entnervte Tonfall der Figur Karl Winter. Der Film erreicht seine Qualität besonders durch jene Figurenmalerei des Protagonisten, durch die doch fahle Erzählungsweise, durch die hübsch verwendete Sprache und durch die absurde Verwirrung, welche dem Werk noch eine gewisse dramaturgische Würze verleiht.
Im Jahr 2008 erschien sein zweitletzter Film Das Summen der Insekten – Bericht einer Mumie. Inspiriert von der Novelle „miira ni narumade“ von Shimada Masahiko, welche auf einer wahren Begebenheit beruht, verfilmt Liechti in seiner Weise die fiktive Geschichte eines ca. 40 jährigen Mannes der sich im Wald auf passive Weise das Leben nehmen will, nämlich durch das freiwillige Verhungern und Verdursten. Liechti erzählt dies in einer Essayistischen Weise, mit gesprochenem Narrativ, welches als Akustisches Tagebuch der Figur des Selbstmörders auftritt, unterstützt durch dokumentarische Aufnahmen und Ausschnitten aus Filmen, es entsteht mit Bild und Ton eine poetische Collage über das Ende des Lebens und die Reflexion darüber. Verbal wird der Film mit Gedankengängen über Leben und Tod, Abschweifungen, und Dokumentation des Fortschritts des passiven Suizids. Der Film in sich, schafft, besonders durch den realistischen, teils unangenehm, ungehemmt detaillierten beschreibenden Text, eine aufwühlende und einvernehmliche Atmosphäre. Der Zuschauer kann sich trotz fehlendem optischen Gegenüber mit dem „Protagonisten“ identifizieren und hofft zu Beginn doch oftmals auf eine zufällige Rettung oder eine Umentscheidung der Figur. Jedoch Liechti gibt der Figur einen sehr zurückhaltenden und auch entspannten verbalen Ton, mit welchem die Vorbereitung und die Akzeptanz des selbst herbeigeführten nahenden Todes der Figur ausgedrückt wird. Ein teils erschreckender, teils aber auch sehr ruhiger Film über das Sterben oder die Flucht des Lebens.
3. Der Zeitgenössische: Simon Jaquemet
Der jüngste der drei Regisseur die ich innerhalb dieses Artikels vorstelle, ist Simon Jaquemet. Gerade mal zwei Langspielfilme veröffentlicht und bereits zahlreiche Auszeichnungen wie zum Beispiel den Hauptpreis des Max Ophüls Festival für sein Debüt Chrieg 2014, und seine Filme liefen an zahlreichen Festivals u.a. am „tiff“ an den internationalen Filmfestspielen in Berlin und an den Filmtagen in Solothurn. Der Regisseur arbeitet bereits an seiner nächsten Spielfilmproduktion mit dem Arbeitstitel „Electric Child“.
Nach mehreren Musikvideos, unter anderem für die Rapper Breitbild und Gimma, Videokunst und einiger Kurzfilme, widmet sich Jaquemet seinem ersten Spielfilm Chrieg, erstmals befürchtet man in der Handlung des Films einen weiteren Coming-of-Age-Streifen der klassischen Schweizer Art mit unnatürlichen Dialogen und abgedroschenen Themen. Ein jugendlicher verhaltensauffälliger Junge wird von seinen Eltern in die Alpen verfrachtet, um zu sich zu finden und wieder auf den Boden zu kommen, natürlich misslingt dies im Sinne der Eltern und die Hauptfigur findet sich in einem neuen Kontext wieder entdeckt sich zwar selbst aber entfernt sich damit weiter von den Vorstellungen seiner Eltern. Jedoch überrascht der Film auf eine grossartige Weise. Mit herausragenden Schauspielern wie der heute international gefeierten Ella Rumpf und dem besonders in Deutschland erfolgreiche Benjamin Lutzke, der die Hauptrolle spielt.
Mit den starken, authentischen, nicht klischierten Figuren, mit der düsteren aber auch mystischen Atmosphäre, mit dem optischen Bild, der von Lorenz Merz gefilmten kargen Alpen, und mit den aggressiven Dialogen schafft Jaquemet eine filmische Sphäre wie sie im Schweizer Film auf diese Weise noch nicht anzutreffen war. Der Film funktioniert besonders in dem wirren Narrativ, die Reise auf die Alp ist eine Entführung, die Hauptfigur wird halbnackt an die Hütte gekettet, wenige Zentimeter vom Brunnen entfernt. Es ist die rohe Gewalt und die verbale Aggression die den Film zu beginn malerisch ausmachen. Jedoch entwickelt sich die Handlung zu einer Selbstfindungssuche der Hauptfigur. Das Narrative beruhigt sich, der Film wird mystischer, sphärischer gar. Einzelne Ausbrüche der Ekstase und Euphorie durchbrechen erneut, sowie auch hochgradig überzeugend verkörperte, emotionale Passagen. Das Gesamtwerk Chrieg ist kompakt in sich, sehr gut geschrieben, angsteinflössend und mitreissend.
Mit seinem zweiten Spielfilm Der Unschuldige trifft der junge Regisseur den Pfeil erneut ins Schwarze. Mit der Thematik der Freikirche verbunden mit leichten Horrorelementen schlägt er jedoch eine neue Richtung ein. Die mystische Atmosphäre wird beibehalten, jedoch wird sie magischer, okkulter, fast schon phantastischer. In der Handlung trifft die Protagonistin Ruth, grossartig verkörpert von Judith Hofmann, auf ihren ehemaligen Mann, den sie vor 20 Jahren, durch seine Inhaftierung aus den Augen verlor. Er erscheint als eine zwielichtige Gestalt und versprüht eine düster erotische Stimmung innerhalb des Films. Bei der Polizei erfährt Ruth von seinem Tod in Indien bei einem Autounfall. Es manifestiert sich eine turbulente Affäre mit dieser Gestalt. Der Mann selbst behauptet er wäre ihr vergangener Partner, ihr neuer Ehemann und Mitglieder ihrer Freikirche meinen den Teufel in ihm zu erkennen. Ruth schwankt zwischen der Sehnsucht zur Vergangenheit, zur aufregenden Erotik, und der Erhaltung ihres Familienlebens, ihres Glaubens und ihrer eigentlichen momentanen Essenz. Der Film überrascht mit schönen Bildern, tollem Sounddesign und einem erneut herausragenden Skript und Cast. Auch ist es diese Atmosphäre die einem gleichzeitig erschreckt und in den Bann zieht welche begeistert. Die Figuren die in dieser düsteren Welt schwimmen und sich und alles andere zu finden versuchen. Die Suche nach der Wahrhaftigkeit und nach sich selbst.
Mit dieser Ausrichtung entsteht neue Hoffnung für den zeitgenössischen, jungen Schweizer Film, dass er sich nicht mehr zur Entschuldigung verpflichtet fühlt sondern vielleicht gar zum Stolz verführt wird.
Bild: Filmstill aus „Geschichte der Nacht“ von Clemens Klopfenstein