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Achtsamkeit – Hype oder Heilsversprechen? Teil II5 min read

30. Mai 2021 3 min read

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Achtsamkeit – Hype oder Heilsversprechen? Teil II5 min read

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Ein vierteiliger Gastkommentar von Joel Michel

Im ersten Teil erzählte Dr. Yuka Nakamura, worin unsere moderne Achtsamkeit überhaupt verwurzelt ist. In der heutigen Folge erfahren wir von Frau Nakamura und Joël Luc Cachelin mehr über die gesellschaftliche Seite der Achtsamkeitsbewegung und wer die Achtsamkeitswelle überhaupt angestossen hat.

Die wissenschaftliche Forschung zur Achtsamkeit und Achtsamkeitsmeditation erlebt seit dem Jahr 2000 einen exponentiellen Zuwachs – die Forschung zum Thema boomt. Jedoch zeigt auch die breite Gesellschaft ein grosses Interesse an der Achtsamkeit und den Erkenntnissen aus der Forschung. Yuka Nakamura erklärt:

«Die Gründe für das stetig wachsende Interesse der Gesellschaft an der Achtsamkeit sind vielfältig. In der Gesellschaft herrschen verbreitete Leiden, die Zahl der mit Depressionen und Angststörungen diagnostizierten Personen nehme seit Jahren zu. Viele verspüren keine Verbundenheit mit sich und der Welt mehr, funktionieren und hetzen nur noch. Smartphones und Soziale Medien befeuern diese Entwicklungen zusätzlich und die Menschen sind auf der Suche nach etwas, was sie wieder zu sich selbst zurückbringen kann. Die Thematik ist sicherlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, der Beigeschmack des Esoterischen sei weg.»

Wahrscheinlich hat sich die Einstellung der Gesellschaft gegenüber der Achtsamkeit so geändert aufgrund der wissenschaftlichen Evidenz. Zuerst veränderte sich jedoch das Verhältnis der Wissenschaft zur Thematik: Als Yuka Nakamura in den 90er Jahren zum Thema Aufmerksamkeit (ein noch weiterer Begriff) doktorieren wollte, lehnte ihr Professor das Thema ab – heute gehören Seminare zur Achtsamkeit zur Regel im Medizin- und Psychologiestudium. Dr. Nakamura erklärt mir, dass allen voran eine prägende Figur diesen Wandel angestossen hat: Jon Kabat-Zinn, geboren 1944. 

Der Molekularbiologe forschte ursprünglich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter dem Nobelpreisträger Salvador Edward Luria, war also Teil der wissenschaftlichen Weltklasse. Bereits in jungen Jahren interessierte er sich für Yoga und Meditation, war in der Bürgerrechtsbewegung tätig. Eigenen Aussagen zufolge kam ihm, während eines Retreats, die Vision, dass diese Übungen kranken Menschen helfen könnten. Er führte zuerst noch «handgestrickte» Übungen im Keller des Krankenhauses, in welchem er arbeitete, mit schwerkranken Personen durch. Dort, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen kam, konnte er mit seinen Achtsamkeitsübungen positive Ergebnisse erzielen. Er begann seine Untersuchungen zu systematisieren, Daten zu sammeln, klinische Studien durchzuführen, schrieb Bücher. Als die Depressionsforschung auf Kabat-Zinns Arbeit aufmerksam wurde und feststellte, dass mithilfe von Achtsamkeitsübungen die Rückfallgefahr von Depressionen verringert werden kann, explodierte die Forschung zum Thema. Der Rest ist Geschichte… 

Die achtsame Gesellschaft

Joël Luc Cachelin, mein zweiter Gesprächspartner, sieht im «Boom» der Thematik eine Art Gegenbewegung zur sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft und Arbeitswelt. Cachelin promovierte 2009 an der HSG zum Thema «Zukunft des Managements». Er beschreibt sich selbst als einen «Zeitreisenden», einen Zukunftsforscher. Er schreibt Bücher, berät Firmen, Organisationen und Unternehmen, versucht gesellschaftliche und unternehmerische Trends und Potentiale zu entdecken und zu untersuchen. Unlängst veröffentlichte er das Buch «Antikörper», in welchem er beschreibt, wie wir als Gesellschaft resilienter gegenüber Krisen und Katastrophen werden können.

Achtsamkeit schafft Resilienz und die gesellschaftliche Achtsamkeit, welche vor einigen Jahren an Fahrt aufgenommen hat, äussert sich in verschiedenen Trends, welche in der COVID-Pandemie noch einmal verstärkt wurden: Einerseits sei der Wunsch nach Loslösung vom Digitalen und Entschleunigung in den letzten Jahren stark gewachsen. Zudem werde in der Arbeitswelt zunehmend auf Reflexion, Selbstdisziplin, Kreativität, Flexibilität und Eigenverantwortung gesetzt. Immer mehr Menschen sind in nicht-herkömmlichen Arbeitsverhältnissen angestellt, werden Freiberufler, Freelancer, oder switchen zwischen mehreren Jobs und Lebensentwürfen hin und her. Es haben sich völlig neue Möglichkeiten und Zwänge der Selbstreflexion gebildet: Die Stichworte heissen Humankapital & unternehmerisches Selbst. Achtsamkeitsübungen können dabei helfen, den eigenen Alltag zu strukturieren.

Auch im politischen Diskurs sei zunehmend die Rede von einer «Glokalisierung», von Gegentrends zur Globalisierung, zu Wegen zur grünen Transformation. Ob die COVID-Pandemie als «Beschleuniger» all dieser Entwicklungen angesehen werden kann, könne frühestens in 10 bis 15 Jahren diskutiert werden. Für einen echten Kurswechsel müssten die Ursachen der Pandemie reflektiert werden. Gerade auf der politischen Ebene fehle jedoch eine vertiefte Reflexion, meint Cachelin. Die Ursachen und Treiber dieser und zukünftiger Pandemien werde nicht diskutiert, obwohl es gerade beim Umgang mit Tieren und der Umwelt (das Virus wurde wahrscheinlich, wie viele andere Infektionskrankheiten, über Fledermäuse auf den Menschen übertragen) einiges zu besprechen gäbe. Aber auch normative Fragen bezüglich Ernährung, Landwirtschaft, dem Massentourismus, dem getriebenen Arbeitsleben, dem «Pendlerblues», werden ausgeblendet und nicht vertieft besprochen. Die meisten wollen nur noch zurück zur Normalität. Eine Normalität jedoch, welche ja gerade zu dieser Krise geführt hat, wie ich mir denke.

Yuka Nakamura mahnt jedoch, die «gesellschaftliche» Achtsamkeit von der «eigentlichen» Achtsamkeit zu differenzieren: Das gesteigerte Bewusstsein für das Klima, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, für Rassismus, Sexismus, Sprache und Strukturen hat seine historischen Wurzeln vielmehr in der postmodernen Philosophie und der kritischen Theorie. Die beiden Kreise mögen sich oft überlappen, sind jedoch nicht deckungsgleich. Für Yuka Nakamura geht im Optimalfall jedoch die gesellschaftliche Achtsamkeit einher mit der Achtsamkeit für das eigene Selbst: Wer nicht auf sich schaut, kann schlussendlich auch nicht auf andere schauen. Und, was für Nakamura sehr wichtig ist: Achtsamkeit darf nicht reduziert werden auf die Ich-Zentrierung. Die Ich-Zentrierung der Achtsamkeit werde falsch aufgefasst. Zur Achtsamkeit gehört nebst dem Blick nach innen auch ein Blick nach aussen. Wer nicht auch die gesellschaftlichen, politischen, ökologischen Aspekte wahrnimmt, lebt nur eine begrenzte Achtsamkeit.

 

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