Achtsamkeit – Hype oder Heilsversprechen? Teil III5 min read
Reading Time: 3 minutesEin vierteiliger Gastkommentar von Joel Michel
In der letzten Folge ging unser Autor zusammen mit Yuka Nakamura und Joël Luc Cachelin den Ursprüngen der gesellschaftlichen Achtsamkeit auf den Grund. Heute möchten wir einen Blick in die Zukunft der Achtsamkeit werfen:
In den letzten Jahren hat sich das Interesse an der Achtsamkeit enorm gesteigert. Wahrscheinlich aufgrund der gesellschaftlichen Beschleunigung, der Überforderung im Arbeitsleben und durch die digitalen Medien, welche zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen geführt haben. Doch ist denn Achtsamkeit nun ein langfristiger Trend oder eine Begleiterscheinung unserer Erschöpfungsgesellschaft? Sowohl Nakamura als auch Cachelin meinen, dass Achtsamkeit mehr als nur ein vorübergehender Hype ist. Yuka Nakamura sieht in der Achtsamkeitsbewegung eine langfristige kulturelle und vor allem auch eine sinnvolle Entwicklung. Die Gesellschaft werde wahrscheinlich die Begriffe aus der Achtsamkeitsforschung übernehmen und in den Alltag integrieren, wie es ähnlich der Forschung von Sigmund Freud rund um das Unterbewusstsein ergangen ist.
Joël Luc Cachelin ist ebenfalls der Meinung, dass die «Scharniere» für eine langfristige Entwicklung gelegt sind. Der Achtsamkeitsbewegung ist ein «präventiver» Aspekt inhärent, welcher auch im Gesundheitswesen mehr und mehr Einzug findet. Körpersignale, die Ernährung, das Körperbewusstsein und Schlaf werden vom Selbst beobachtet und es wird versucht zu handeln, bevor es zu spät ist. Auch die Krankenkassen arbeiten immer mehr mit den Techniken des «Quantified Self», dem Tracken, Messen und Überwachen des eigenen Körpers durch Schrittzähler, intelligente Uhren oder Gesundheitsapps.
Die Vorteile für das Gesundheitswesen liegen, zumindest für mich, auf der Hand: Im Gesundheitswesen müssen Kosten gespart werden, Achtsamkeitsübungen, oder auch das Quantified Self, sind dabei billige Lösungen zur Prävention und Früherkennung von Krankheiten. Cachelin zufolge ergeben sich für Unternehmen neue Möglichkeiten: Durch Werte wie Achtsamkeit oder Nachhaltigkeit können sich Unternehmen neu auf dem Markt positionieren und neue Märkte (nennen wir sie mal Achtsamkeitsmärkte) werden geschaffen. «Karma Konsum», der moralisch korrekte, (umwelt)bewusste und achtsame Konsum sei ganz klar eine langfristige Entwicklung. Cachelin kann sich auch gut vorstellen, dass eines Tages der Fleischkonsum so verpönt sein wird wie das Rauchen in bestimmten Kreisen heute.
Die Motive hinter den neuen Marktpositionierungen können jedoch verschiedentlich sein: Wo bei einigen Firmen das wirkliche Wohl der Angestellten im Vordergrund steht, geht es bei anderen vielleicht nur um Effizienzsteigerung mithilfe der Achtsamkeitsmethoden. Wo einige Unternehmen wirklichen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen wollen und das Zusammenleben zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen verändern möchten, sehen andere Firmen Labels, um die eigenen Produkte besser vermarkten zu können. Ob Werte nur verkauft oder auch gelebt werden, ist oft nicht klar ersichtlich; es bedarf schliesslich der eigenen Reflexions- und Recherchearbeit, um die Unternehmen richtig einordnen zu können.
Die Gefahren der Achtsamkeit
Vieles vom Gehörten klingt verheissungsvoll. Doch wo liegen potenzielle Gefahren? Ich frage Dr. Nakamura, ob beispielsweise im klinischen Bereich Gefahren entstehen können. In ihrer Antwort unterscheidet sie dabei deutlich zwischen der Achtsamkeit als Haltung und der Achtsamkeitsmeditation. Der achtsamen Haltung könne sie nur positive Aspekte abgewinnen, die uns in der Alltags- und Krisenbewältigung helfen. Bei der Achtsamkeitsmeditation müssen teilweise jedoch Anpassungen an die individuellen Leiden der Erkrankten vorgenommen werden: Eine längere Fokussierung auf den eigenen Körper kann beispielsweise ungünstig sein für Menschen mit einer traumatischen Vorgeschichte. In diesen Fällen sei es wichtig, dass eine geschulte Fachperson die entsprechenden Vorsichtsmassnahmen trifft, um die allfälligen Risiken zu minimieren.
Mit Joël Luc Cachelin habe ich hingegen über Szenarien der Hyperachtsamkeit gesprochen. Hyperachtsamkeit kann ein zu stark gesteigertes Bewusstsein für die eigene Gesundheit, eine alleinige Ich-Zentrierung oder ein sehr starker Karma Konsum beinhalten und kann eventuell zu einer «Rebellion» führen: Vielleicht will niemand mehr aufgrund des Stresses am Arbeitsplatz arbeiten oder die Nachfrage nach (unethischen) Produkten könnte einbrechen. Wenn sich die Menschen nicht mehr emotional aufreiben wollen und sich alle in ihre Safe Spaces, Filterblasen und Echokammern zurückziehen, kann die Hyperachtsamkeit auch die Individualisierung und Zersplitterung der Gesellschaft vorantreiben. Wenn man sich, um des eigenen Wohlbefindens willen, nicht mehr mit anderen Meinungen, Personen und Lebensentwürfen befasst, wir uns nicht mehr «reiben» wollen mit anderen Meinungen, dann spaltet dies die Gesellschaft noch mehr.
Yuka Nakamura betont jedoch ausdrücklich, dass Achtsamkeit kein Gesellschaftsentwurf darstellt. Achtsamkeit ist für sie zuallererst eine psychische Qualität davon, wie wir uns auf unser Erleben beziehen: Aufmerksam, wach, präsent, nicht-bewertend. Die Achtsamkeit kann allerdings gesellschaftlich zu einer Norm konstruiert werden. Im klinischen Kontext sind auch bereits Normen vorhanden: Achtsamkeit soll dort zur Heilung und Gesundheit von Menschen beitragen. Die Achtsamkeit kann allerdings auch in anderen Kontexten geübt und praktiziert werden. Bei fehlender Bewusstheit können auch problematische Zielsetzungen dazukommen und die Achtsamkeit kann instrumentalisiert werden, beispielsweise für die blosse Profitsteigerung. Achtsamkeit liefert vor allem wertvolle Erkenntnisse für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Sobald gesellschaftliche Normen konstruiert werden, sollten wir allerdings sensibilisiert sein: Wer konstruiert diese Normen? Mit welcher Berechtigung und auf welcher Grundlage? Wenn politische Bewegungen die Achtsamkeit zur moralischen Maxime aufbauschen, oder wenn Firmen Achtsamkeitsübungen ausschliesslich zur Effizienzsteigerung der Mitarbeitenden benutzen, so ist dies sicherlich nicht der «Sinn» der Achtsamkeit. Gerade im beruflichen Kontext haben achtsame, oder auch sportlichere Menschen, bestimmt mehr Potential als die nicht-achtsamen und unsportlichen. Das «Schlechte» liegt jedoch nicht in der Achtsamkeit oder im Sport, sondern in der Zweckentfremdung begründet.
Über diese Zweckentfremdung und die Rationalisierung der Achtsamkeit werden wir im vierten und letzten Teil unserer Reihe eingehen. Bleibt dran!