Achtsamkeit – Hype oder Heilsversprechen? Teil IV3 min read
Reading Time: 2 minutesEin vierteiliger Gastkommentar von Joel Michel
Zum Abschluss der Reihe reflektiert unser Autor Joel Michel über die Erkenntnisse der Gespräche mit Yuka Nakamura und Joël Luc Cachelin und fragt sich, was die Achtsamkeit für unser aller Leben bedeuten wird.
Was können wir aus den vorangegangenen Gesprächen und Artikeln mitnehmen? Achtsamkeit ist definitiv mehr als ein Hype. Es scheint ein langfristiger Trend stattzufinden. Die Erkenntnisse und Ideen setzen sich mithilfe der Forschung und Wissenschaft immer mehr im klinischen Bereich, in unseren Gesundheitseinrichtungen und langsam, aber sicher auch in unseren Köpfen fest. Obwohl die Wurzeln einige Tausend Jahre zurückreichen und in den unterschiedlichsten Kultur- und Religionskreisen eigenständig verankert sind, scheint erst jetzt die Achtsamkeit gesellschaftsfähig zu werden. Durch die Wissenschaft werden die positiven Auswirkungen der Achtsamkeit systematisch erfasst und rationalisiert, die Akzeptanz für Achtsamkeitspraktiken gesteigert und die Achtsamkeit entzaubert: Sie verliert nicht nur ihren exotischen, weil buddhistischen, Charakter, sondern auch den Hauch des Mystischen und Esoterischen und wird zu einem alltäglichen Phänomen. Ich behaupte sogar, dass sie (leider) immer mehr zu einem Produkt wird: Sie wird nicht nur kommerzialisiert und kommodifiziert, sondern auch als Lebensentwurf vermarktet. Für Unternehmen ergeben sich neue Marktpositionierungsmöglichkeiten, und auch für die Individuen ergeben sich neue Formen der Individualisierung auf dem Markt der Identitäten. Die Auffassung, dass sich «achtsame Menschen» lediglich auf sich selbst konzentrieren und die eigenen Bedürfnisse kümmern, ist Yuka Nakamura zufolge eine krasse Misskonzeption. Leider halten sich diese Bilder jedoch, weil die Achtsamkeit oft als ein solches “Mittel” vermarktet wird. Dies stellt sicherlich eine «Verwestlichung» der Achtsamkeitslehre dar, wie es bereits bei anderen buddhistischen Gedanken und Konzepten passiert ist. Achtsamkeit ist jedoch mehr als ein blosses «Individualisierungsinstrument».
Die Achtsamkeitsbewegung vermischt sich mit politischen, philosophischen und post-religiösen Diskursen. Achtsamkeit wird zum Lebensentwurf, zur moralischen Maxime, zu einer Norm, zu einem Konsumratgeber. Identität wird nicht mehr gelebt, sondern konsumiert. Und Achtsamkeit verkommt dabei auch in bestimmten Kreisen zu einem Heilsversprechen, zur einzigen Möglichkeit, sich aus unserer gesellschaftlichen Sackgasse herauszumanövrieren und kann vielleicht sogar ideologische Züge annehmen.
Sowohl Dr. Nakamura als auch Dr. Cachelin verstehen die Achtsamkeit als eine Reaktion auf die Beschleunigungsgesellschaft, auf die weitverbreiteten psychischen Leiden, als ein Versuch zur Entnetzung vom digitalen Raum. Die wissenschaftlichen Befunde zeigen grundsätzlich, dass die Achtsamkeit wirklich helfen kann, mit diesen Problemen umzugehen. Spannend finde ich jedoch die Beobachtung, dass die «gesellschaftliche» Achtsamkeit als ein Gegenentwurf zum System, zum hektischen Arbeitsleben und zur Konsumgesellschaft angedacht ist, jedoch immer mehr vom System in sich integriert wird: Nicht das System passt sich unseren Bedürfnissen und unserer Überforderung an, stattdessen passen wir uns vielmehr an das System an, gewöhnen uns an die Beschleunigung, den digitalen Overload. Statt uns dem alltäglichen Druck anzupassen, könnten wir jedoch auch die zugrundeliegenden Strukturen zu verändern versuchen. Der Kapitalismus und der Materialismus werden durch die Achtsamkeitsbewegung, wie es vielleicht von einigen gewünscht wird, nicht abgeschafft werden, vielmehr werden nun einfach «ideelle» Werte und Identitäten verkauft und vermarktet.
Fest steht: Achtsamkeit kann helfen, Leiden zu vermindern und das eigene Wohlbefinden zu stärken. Was wir Menschen aus dieser Erkenntnis, der Achtsamkeit und dem damit einhergehendem Wissen und Techniken machen, ist allerdings nirgendwo festgeschrieben. Die Zukunft ist offen, nichts steht fest: Ob all diese Entwicklungen zu einer Utopie oder Dystopie führen, das liegt in letzter Linie in unseren Händen – wir alle prägen die Zukunft mit, wir alle können beeinflussen, in welche Richtungen wir uns und das System führen wollen. Auf jeden Fall werde ich weiterhin versuchen, mit achtsamem und aufmerksamem Blick die ganzen Dynamiken zu beobachten, ohne gleich zu bewerten. Und vielleicht sollten wir das alle mal versuchen.