Desktop-Dokumentarfilme: eine Kurzanleitung6 min read
Reading Time: 4 minutesEin 10-Minuten-Rezept nach Flori Bossy
Der Desktop-Dokumentarfilm ist die niedrigschwelligste aller Filmkünste. Alles was du brauchst, ist ein Computer oder ein Smartphone. Und natürlich diese Anleitung, gewürzt mit den Erfahrungen von Filmemacherin Chloé Galibert-Laîné.
Vielleicht fragst du dich gerade: Was ist ein Desktop-Dokumentarfilm und wie bin ich hier gelandet? Zwei sehr wichtige Fragen! Vor allem die Zweite, wie du feststellen wirst. Vielleicht hast du aber sogar schon mit dem Gedanken gespielt, eine Desktop-Doku zu machen? Egal zu welcher Gruppe du gehörst, dieser Artikel ist für dich da. Aber Achtung! Was folgt, ist als Vorschlag zu verstehen, als ein Weg von vielen. Natürlich gibt es einige wichtige Grundsätze. Aber statt dich strikt an Anleitungen zu halten, solltest du genau das tun, was für dich funktioniert – egal was das ist.
So ist das. Aber jetzt genug der Packungsbeilagen! Auf geht’s!
Desktop-Filme? Desktop-Dokus?
Desktop-Filme werden seit etwas mehr als zehn Jahren produziert. Es sind Filme, die ganz und gar auf dem Interface eines Computers oder eines Smartphones spielen und von da aus die Welt erkunden.
Desktop-Dokumentarfilme formen dabei die nicht-fiktionale Teilmenge von Desktop-Filmen, die den Funken der „Wahrheit” enthalten (oder dies zumindest glaubhaft machen). Desktop-Dokumentarfilme basieren beispielsweise auf YouTube-Videos von putzbegeisterten Hausfrauen und Online-Artikeln von Forscher:innen. Fakten und im Internet gefundene Realitäten werden zu einer Geschichte verflochten. Gemäss Kevin B. Lee, einer der berühmtesten und ersten Desktop-Filmemacher, geht es aber nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die menschlichen Erlebniswelten, die sich durch neue Technologien auftun: “Desktop documentary seeks both to depict and question the ways we explore the world through the computer screen.”
Aller Anfang ist ein Surf-Marathon
In aller künstlerischen Freiheit lässt sich sagen, dass hinter bedeutungsvollen Filmen oft eine fundierte Recherche steht. Recherche ist der humose Boden, auf dem ein herzhafter Inhalt wächst.
Chloé Galibert-Laîné, eine Desktop-Filmemacherin, die mit Filmen wie „Watching the pain of Others“ internationale Anerkennung gewann, berichtet im Interview mit Frachtwerk über ihre persönliche Herangehensweise an ein Thema:
„Wenn ich einen Desktop-Film mache, tauche ich tief in die Recherche ein und dokumentiere diesen Prozess so sorgfältig wie möglich. Das heißt, ich behalte alle URLs der Seiten, die ich öffne. In einem Textdokument halte ich meine Reise fest, wie ich von einer Seite zur nächsten gekommen bin, was ich dort gelesen habe, auf welches Wort ich geklickt habe und zu welchem Inhalt mich das geführt hat. Dabei bin ich sehr frei und folge sozusagen dem Internet, wohin es mich führt. Das mache ich Tage um Tage, Wochen um Wochen.“
Kevin B. Lee sagt über Recherche: „Think about your own life regarding to screens and what stories you could tell, just by capturing your own daily life on screen.” Bei Desktop-Filmen geht es nicht nur darum, den Bildschirm zur filmischen Bühne zu machen, sondern auch darum, die Arten von Interaktion und Leben einzufangen, die durch das Verwenden von Computern und Smartphones entstehen. Sich selbst zu beobachten, so Kevin B. Lee, kann die Forschungsreise beflügeln.
Denn letzten Endes geht es auch darum, sich in eine Erzählwelt zu begeben, die grundlegend anders ist als im Mainstream-Kino. Der Desktop wird zum erzählerischen Rahmen, der Mauszeiger zu einem Protagonisten. Und das Erzählen der Geschichte wird Teil der Geschichte. Hierzu ein Beispiel. Im 2018 erschienen Desktop-Thriller „Searching“ wird der Termin „Mama aus dem Krankenhaus abholen“ immer wieder nach hinten verschoben, bis ihn der Mauszeiger schliesslich im Papierkorb entsorgt. Filmkritiker Tilman Baumgärtel sagt dazu: „Eigentlich ist es nur eine Mausbewegung, aber weil wir selbst so mit dem Computer sozialisiert sind inzwischen, kann uns das auch emotional erreichen.“
Wenn du ein Internet-Tiefseetaucher:in wirst und dich von den Strömen des Webs treiben lässt, werden dir bestimmte Aspekte interessanter scheinen als andere. Und natürlich wirst du auf viele Erzählstränge stossen, die du in den Papierkorb verabschiedest. Durch beständiges Sammeln, Ordnen und Ausmisten gelangst du irgendwann zum Kern deiner Geschichte(n).
Das große Puzzeln
Da Film ein lineares Erzählmedium ist, folgt nun die Entscheidung, welcher Punkt im Film zuerst kommt, welcher an zweiter Stelle, usw. Die generelle Herangehensweise an das Thema hängt jedoch stark von deiner filmischen Vision ab. Trittst du als Erzähler:in in den Hintergrund, wie zum Beispiel bei „Transformers: The Premake“ von Kevin B. Lee? Oder ist deine persönliche Reise Teil des Films, wie bei den Filmen von Chloé Galibert-Laîné? Im letzteren Fall ist es wichtig, auch deine eigenen Gedankengänge und Gefühle zu dokumentieren. Daraus kann später die Erzählstimme entstehen, die das Filmpublikum durch den Film begleitet.
Nun stellt sich auch die Frage der technischen Umsetzung: Wie nehme ich den Bildschirm auf? Wie kann ich beim Schnitt des Films in einen Bereich des Bildschirms reinzoomen? Die Antworten auf diese Fragen hängen stark vom (Schnitt-)Programm ab, welches du verwendest. Oft genügt dabei die einfachste Lösung (siehe zum Beispiel eine Anleitung zu Bildschirm-Aufnahmen bei Macs, oder drücke die Windowstaste + G).
Fremdes Material. Dein Film
Filmemacher:innen sind oft mit der Problematik konfrontiert, dass fremdes Material – Videos, Musik, und sogar Nutzer-Oberflächen wie YouTube, Facebook & Co – vor unautorisierter Wiederverwendung geschützt sind. Bei Desktop-Dokumentarfilmen ist das ein zentrales Thema. Dazu gibt es zweierlei zu beachten:
- Was ist die Natur der Sache, die du dir aneignest? Ein Hollywood-Film ist (leider) besser geschützt als das YouTube-Video einer Privatperson. (Grund: Privatpersonen haben oft nicht die Mittel für einen rechtlichen Prozess. Ein respektvoller Umgang mit ihrem Material ist deshalb wichtig.)
- Wo produzierst du? Die Rechtslage hängt stark vom Land ab, in welchem du produzierst. Um auf der sicheren Seite zu sein, empfiehlt es sich, in die Gesetzgebung deines Landes einzutauchen.
Als Faustregel gilt: Frage die Urheber um Erlaubnis, wenn möglich. Und eine weitere Faustregel: Solange du keine grossen Geldsummen verdienst, werden dich Firmen wahrscheinlich nicht verklagen.
Eine Rechtsberatung ist generell empfehlenswert. Nichtsdestotrotz solltest du dich von rechtlichen Fragen nicht verunsichern lassen. Hierzu ein kleiner Lichtblick: Bis anhin gab es keinen Fall, in dem eine Firma einen Desktop-Filmemacher:in verklagt hat.
Zu guter Letzt
Bravo! Du hast es bis ans Ende der Anleitung geschafft. Falls du noch mehr Inputs brauchst: Hier gibt es ein 1-stündiges Tutorial von Kevin B. Lee. Ausserdem: ein Interview mit Chloé Galibert-Laîné über ihren Film „Watching the Pain of Others“ (der Film ist hier einsehbar).
Wir hoffen, dass deine Augen noch nicht viereckig sind und wünschen dir viel Rechenleistung und Prozessorkraft für deinen Desktop-Dokumentarfilm!
Titelbild: https://vimeo.com/298425068