«Wir haben das bisher stringenteste Album produziert!»: Hanreti über «The Afterdark»9 min read
Reading Time: 6 minutesHast du dich auch schon gefragt, wie sich eine Reise durch die Antarktis anfühlt? Die Luzerner Band «Hanreti» offensichtlich schon. Ihr neues Album «The Afterdark» handelt davon. Das Interview zum Album und der dazugehörige Film. Jetzt. Hier.
Das Luzerner Quintett «Hanreti» bringt heute Freitag seine neue Scheibe «The Afterdark» heraus. Ein Konzeptalbum, das in den Weiten der Polarwelt spielt. Die Band rund um Brain Timo Keller nimmt uns mit auf eine weite Reise und serviert und treibende, wohlige und manchmal auch etwas fremde Klänge und Rhythmen, die wir so von ihnen noch nicht zu Gemüte geführt bekommen haben. Dass das Album für die Band ein grosser Kampf war, hört man ihm nicht an. Im Gespräch vor ihrer Filmpremiere treffen wir drei der Musiker, Timo Keller, Rees Coray und Lukas Weber zum Interview im Luzerner Neubad. Filmpremiere? Ja. Es gibt einen 45-minütigen Film zum Album.
«Aus einem anfänglich sehr wirren Ausprobieren entstand unser bisher stringentestes Album.»
frachtwerk: Euer neues Album nimmt uns mit auf eine Reise in die Antarktis. Wieso ausgerechnet an diesen Ort?
Timo Keller: Ich habe vor drei Jahren ein Buch über den britischen Polarforscher Sir Ernest Shackleton gelesen. Das ist ein legendärer Typ, dessen Geschichte mich sehr faszinieren. Auf einmal begann ich mich für diesen Ort und die Atmosphäre zu interessieren, die dort herrschen muss. So setzte ich mich an den Synthesizer und probierte die Atmosphäre musikalisch aufzugreifen. Ich probierte für eine ziemlich lange Zeit einfach aus, baute mit verschiedenen Patterns einen Teppich zusammen, bis es schliesslich immer konkreter wurde. Und so ist der Ursprungsgedanke noch heute mit drin, dieses Naturphänomen, die Orientierungslosigkeit, die Weite des Ortes einzufangen. Aus einem anfänglich sehr wirren Ausprobieren entstand unser bisher stringentestes Album.
frachtwerk: Wie könnt ihr euer Album als stringent definieren?
Timo Keller: Das hat alleine schon einen technischen Hintergrund. Auf dem Album hört man oft Loops, Synthesizer-Sequenzen, die uns auch eine Art musikalisches Korsett angezogen haben. Wir konnten nicht mehr so fest daraus ausbrechen, wie wir das bisher gemacht haben.
frachtwerk: Das klingt jetzt aber nicht sehr positiv.
Timo Keller: Es war eine spannende Erfahrung. Derzeit sind wir die Stücke am Proben, um sie schon bald live spielen zu können. Das ist nicht ganz einfach, weil wir uns innerhalb der gegebenen Strukturen zurechtfinden müssen. Auf dem Album funktionieren diese ziemlich gut. Live muss Vieles neu gedacht werden. Hinzu kommt, dass wir kurz vor dem ersten Lockdown anfangs 2020 unser letztes Konzert gespielt haben.
«Der Ort eröffnet in meinen Gedanken wahnsinnige Bilder.»
frachtwerk: Wenn ihr von Polarexpeditionen redet, sprecht ihr auch von der Überheblichkeit des Menschen, selbst eine der letzten wenig erforschten Gegenden der Welt in den Griff bekommen zu wollen. Und von einem der letzten weissen, unbefleckten Flecken der Erde. Handelt euer Album jetzt also mehr von einer Gesellschaftskritik oder von einer Flucht ebendieser?
Timo Keller: So habe ich mir das noch nie überlegt (lacht). In meinem Bild von dem Ort schwimmen ein paar Sachen mit. Der Ort eröffnet in meinen Gedanken wahnsinnige Bilder. Einerseits ist es ganz klar die Faszination der unendlichen Weite und der Unberührtheit. Wobei diese Unberührtheit eher eine vermeintliche ist.
Im Hinblick auf die Klimakathastrophe ist die Antarktis ein Ort, um Daten zu sammeln, sie dient quasi als eine Art Referenzort, da der Ort auf der Kippe eines noch funktionierenden Ökosystems steht. Und dann gibt es noch den gesellschaftlichen Aspekt. Als die ersten Polarexpeditionen starteten hatten sich verschiedene Nationen darum gestritten, wer als erstes die eigene Flagge hingesetzt haben darf. All diese Konflikte, die im Gegensatz zu der scheinbaren Unberührtheit stehen, kann man unendlich weiterspinnen.
Auf dem Album wird aber nur ein einziger Song wirklich explizit gesellschaftskritisch. Und zwar «Talking Dust/Flooding The Earth». Also viel Schwachsinn reden und dabei aber die Welt fluten.
«The Morning Glory» hätte zu fest nach Oasis geklungen»
frachtwerk: «The Afterdark» klingt auch eher nach einer finsteren Sache. Spielt die Geschichte im Polarwinter, jenseits des Sonnenuntergangs?
Timo Keller: Eigentlich sollte der Titel das Gegenteil bedeuten. In einer Korrekturphase des Albums habe ich gemerkt dass es den Namen als solchen gar nicht gibt (lacht). Bei «Afterdark» handelt es sich – wenn es nach mir geht – um den Zustand der nach einem vorangegagnenen Zustand vorherrscht. Und das kann man auf viele Themen anwenden.
«The Morning Glory» hätte zu fest nach Oasis geklungen, doch der Moment, der zur Geltung kommt, nachdem man aus einem Loch steigt, ist ein für mich sehr spezielles Gefühl. Ich selbst fühle das Gefühl in meinem Körper immer wieder sehr stark. Was es genau ist, kann ich aber auch nicht sagen. Und das ist ja auch das Schöne. Während die Sprache meistens sehr prägnant sein muss, darf sie in der Musik auch einer Art Schwammigkeit verfallen.
frachtwerk: Mit eurer neuen Musik, eurem neuen Album seid ihr eurem Stil durchaus treu geblieben. Dennoch wurde das Album sphärischer, treibender. Ein Entscheid, den ihr bewusst gefällt habt? Oder ist es doch eher eine Entwicklung, die während der Zeit des Schreibens so entstanden ist?
Timo Keller: Das ganze Album war ein grosser Knorz.
Rees Coray: Timo entwicklet die Ideen, schreibt die Songs, und wir probieren es anschliessend gemeinsam umzusetzen. Bei diesem Album brauchte es gleich mehrere solcher Anläufe, bis wir wirklich mit dem Sound zufrieden waren. Ich fand es aber spannend, das Rohmaterial auszuprobieren, um Timo anschliessend wieder weiter daran tüfteln zu lassen. Es war aber schon auch schwieriger, weil durch die digitalen, teils auch programmierten Elemente eine neue Ebene dazugekommen ist. Die Verspieltheit, die wir bisher hatten, die haben wir jetzt einfach gerade nicht mehr. Natürlich haben auch äussere Einflüsse mitgewirkt. Mit der räumlichen Distanz wurde alles schwieriger.
Timo Keller: Die Pandemie hat Kreativschaffende in zwei Lager geteilt: Die einen konnten voll aus sich selber heraus schöpfen. Andere brauchen im Leben Erlebnisse, aus denen sie schöpfen können. Auch ich war ohne Begegnungen total uninspiriert. Und Corona als Thema des Albums fand ich dann doch nicht so interessant.
«Ich habe schon wieder Lust auf etwas Neues.»
frachtwerk: Und wie kam es dann dazu, dass aus dem Beinahe-Desaster dennoch ein funktionierendes, tolles Album entstand?
Rees Coray: Es waren die Ideen von Timo und unser Zusammenkommen, was durch sehr positive Momente und auch mal einer Reiberei zu einem kreativen Prozess geführt haben.
Timo Keller: Wir konnten auch nicht ich auf Lösungen zurückgreifen, die wir jeweils hatten, da die Produktionsweise eine ganz andere war. Ich muss aber ehrlich gestehen, dass meine emotionale Bindung an dieses Album relativ klein ist. Wir konnten uns zwar Beweisen, dass wir auch das können. Ich glaube es hat uns durchaus eine musikalische Tür geöffnet. Doch ich habe schon wieder Lust auf etwas Neues. Ach, wir spielen uns auch manchmal einfach etwas runter.
frachtwerk: Wie könnt ihr Stilveränderungen umsetzen? Verzieht sich da erstmal jeder von euch in ein Kämmerchen und tüftelt an den Sounds des neuen, gewünschten Stils?
Timo Keller: Ja, insbesondere unser Luki musste viele neue Insttrumente lernen. Er ist quasi der Oktopus unserer Band. Er ist nämlich für all die Patterns und Synthesizer zuständig. Ohne Luki können wir nicht mehr spielen. Denn er steuert all jene Sachen, die wir nicht mehr spielen können. Klar ist es normal, dass jeder von uns für sich an seinen Fertigkeiten üben muss, bevor wir als Ganzes funktionieren.
frachtwerk: Ihr habt euch als Band – so sagt es zumindest der Text zu eurer Albumankündigung – ziemlich komplett auf die musische Seite eures neuen Werkes fokussieren können. Dies, weil die Texte einmal mehr der Luzerner Autor Bela Rotenbühler geschrieben hat. Woher stammt euer Gedanke, das Schreiben von Lyrics auszulagern?
Timo Keller: Das war unsere Rettung! Ich bin ein unglaublicher Bauchentscheidungs-Mensch. Ich vertraue meinem Bauch sehr fest. Kommt hinzu, dass ich ein extrem schlechter Textautor bin, da mir das Schreiben von Lyrics schnell einmal zu nerdig und zu langwierig wird. Wir handhabten es so, dass ich mein ins Mikro geplapperte Englisch als Vorlage dem Bela gebe. Und er entwickelt dann den fixfertigen Text daraus. Das machen wir schon seit zwei-drei Alben so. Für mich gibt es einfach immer einen Moment, an dem das Album musikalisch fertig sein muss. Und wenn ich dann beginnen müsste an meinen Texten zu schleifen, dann wüsste ich nicht wie viele Alben es wirklich gäbe.
«Bei unserem ersten Album habe ich einfach Jazz-Texte online geklaut und etwas ummodelliert.»
frachtwerk: Bist du ein schlechter Textautor oder hast du einfach nicht die nötige Geduld um Texte zu schreiben?
Timo Keller: Ich habe es noch kaum gemacht, daher weiss ich es nicht. Bei unserem ersten Album habe ich beispielsweise einfach Jazz-Texte online geklaut und etwas ummodelliert (schmunzelt).
frachtwerk: Eure zirka dreiviertelstündige Platte ist nur ein Teil des Ganzen. Zusätzlich habt ihr nämlich ein Video produziert, (das am vorletzten Mittwoch im Neubad seine Premiere gefeiert hat) und ebenfalls geschlagene 45 Minuten dauert. Inwiefern ergänzt es eure Musik?
Timo Keller: Ich habe Isabelle Weber, unsere Art Diretor, kennengelernt und zwei ihrer Sachen gesehen und war fasziniert von ihrer Arbeit. Also habe ich sie gefragt ob sie alle visuellen Aspekte unseres Albums umsetzen könnte und möchte. Was anfangs als Albumcover und Co gemeint war, ist komplett überbordet und endete in einem Film, der gleich lang wie das ganze Album dauert.
Lukas Weber: Das ist eigentlich schön, es gehört nämlich zu Hanreti.
Timo Keller: Nur bin ich es normalerweise, der überbordet. Doch diesmal war das anders, und das war gut so! Entstanden ist ein Film, der aus drei verschiedenen Teilen besteht. Und zwar aus gespielten Szenen, in denen wir als Band vor der Kamera stehen, sowie aus virtuell erstellten Charakteren, die Liwai Keller erarbeitet hat. Hinzu kommen Polarwelten, die Isabelle gezeichnet hat. Eine 45-minütige, absurde, tragische und aber durchaus auch lustige Reise durch Zeit und Raum.
frachtwerk: Zum Schluss: Macht der Film auch etwas mit eurer Musik?
Lukas Weber: Auf jeden Fall. Musik verändert sich so oder so, wenn ein Bild hinzukommt. von daher beeinflusst sie das schon extrem. Wir sind aber alle gespannt, wie das wirkt wenn wir das heute Abend auf der grossen Leinwand und auf der grossen Musikanlage sehen und hören werden. Einige von uns haben den ganzen Film auch noch gar nicht gesehen!
Der Film zum Album
Das Album auf Spotify
Titelbild: Jan Rucki (Hanreti mit Videokünstlerin Isabelle Weber)