Paris – zwischen Metrofahren, Präsidentschaftswahlen und dem Glücklichsein6 min read
Reading Time: 4 minutes“Paris oh Paris, quelle ville magnifique!” – Oder so ähnlich. Aus dem kleinen Luzern raus nach Paris. Das klingt nicht nur überfordernd, ist es auch ein wenig. Eine essayistische Reise in die nicht weit entfernte Metropole.
Ich stehe in einer überfüllten Metro. Von hinten presst sich ein Sitz in meinen Rücken, von vorne presst sich ein Rücken gegen mich. Alle sind in ihrer eigenen Welt, die Blicke aufs Handy gerichtet oder in ein Buch. Hier mal jemensch, der nach ein paar Münzen oder Zigaretten fragt, da mal jemensch am trippen und spucken (uh yes, voll ins Gesicht der Person daneben).
Ich betrachte die Menschen um mich rum, sind sie glücklich, frage ich mich. Ist der Mann, dessen Rücken nur ein paar Zentimeter von meiner Nase entfernt ist, glücklich? Warum leben Menschen hier? Warum beschweren sich alle über die volle Metro, die vollen Strassen, die gestressten Menschen, aber befinden sich selbst mittendrin?
« Êtes-vous heureux.se? »
Eine Frage, die sich sicherlich viele schon gestellt haben. Doch hast du das schon mal fremde Menschen auf der Strasse gefragt?
In dem 1961 erschienen Dokumentarfilm «Chronique d’un été» antworten die Menschen auf den Pariser Strassen darauf unterschiedlich. Die Empfindungen gehen von glücklich, da die Sonne gerade scheint bis zu unglücklich, da sie zu viel arbeiten müssen, unter dem kapitalistischen System leiden und nicht das tun können, was sie gerne würden, weil sie zuerst irgendwie ihr Leben erhalten müssen. Ich bin überzeugt, dass die Antworten heute nicht viel anders aussehen würden. Jedenfalls war zumindest der öffentliche Verkehr damals etwa gleich voll wie heutzutage.
Viele der befragten Menschen lebten nicht gerne in Paris, es sei zu laut, zu voll, zu dunkel und zu gestresst. Auch das hat sich für einige vermutlich nicht verändert. Aber wenn das vor etwa 60 Jahren schon so war, warum hat dann diese Stadt bis heute so eine bannende Wirkung auf Menschen und ist die am dichtesten besiedelte Stadt Europas. Warum leben die Menschen dann trotzdem hier, wenn sie doch nicht richtig glücklich sein können?
« Paris est la seule ville au monde où il n’est pas nécessaire d’être heureux. »
Das hat mal eine französische Schriftstellerin gesagt – Und warum denn nicht? Wie ist es denn in Paris zu leben?
Paris ist wild. Paris ist gross, aber gefühlsmässig auch nicht so «Berlin-gross». Paris hat viele Menschen auf engstem Raum – doch welche Grossstadt hat das nicht? Paris hat verschiedene Quartiere, wo mensch tatsächlich denken könnte kurzerhand in eine andere Stadt gereist zu sein. Gleichzeitig sind sie nicht so unterschiedlich wie im nahe gelegenen Brüssel.
Metro oder Forschungsfeld für Anthropolog*innen?
Es gibt definitiv ein Paris für die Reichen und eins für die Armen. Die beiden haben nicht viel miteinander zu tun. Um das zu sehen, steigst du einfach mal in eine Metro und fährst von Anfang- bis Endstation. Ich empfehle die Linie 13 Richtung Saint Denis zu nehmen. Das lässt jedes Anthropolog*innen-Herz höher schlagen, bei all den sozio-ökonomisch-kulturellen Studien, die du in den Metros anfangen könntest. Es ist schon spannend, vor allem muss mensch sich ja irgendwie unterhalten bei all der Zeit, die mensch in der Metro verbringt.
Die Metro rund um das Louvre ist voll von grösstenteils weissen, in Markenkleidung gehüllten, Menschen. Die treffen dort dann auf Touris in Gilets und Bauchtäschchen und On-Schuhen (hier lässt sich weniger ein sozialer Clash, sondern eher ein Style-Clash erkennen). Je weiter du dann in jede Richtung in die Peripherie fährst, in eine Banlieue wie Saint Denis zum Beispiel, desto mehr durchmischen sich die unterschiedlichsten Menschen. Ins Auge springt auch, dass es bestimmte Haltestellen gibt, an denen die sichtlich privilegierten Menschen aussteigen und als weniger privilegiert gelesene Menschen einsteigen – und umgekehrt.
Die enorme rassistische Trennung zwischen Arm und Reich ist dabei auffallend. Von den Nachtbussen ganz zu schweigen. Denn während die weissen privilegierten Menschen von der Tanzfete nach Hause fahren, fahren POCs zur Arbeit. Die soziale Schere von Arm und Reich ist weit offen (das würde keine Handelsübliche Schere aushalten).
Nicht ganz so «Emily in Paris»-like
Paris gibt sich als ach so fancy Stadt, mit ihrer Kunst und Mode und Monumenten, der Kultur, der Romanze… Doch dies ist der Teil, dem du nur beiwohnen darfst, wenn du das nötige Geld hast. Willst du also deine eigene kleine «Emily in Paris»-Experience dann pack dir genug Euros in die Tasche, sonst kommst du nicht weit. Viel Ähnlichkeiten mit der Serie wirst du aber trotzdem nicht finden. Eher merkst du, wie verzerrt das ideologisierte Bild von Paris eigentlich ist. Und wenn du grade dabei bist durch die Strassen zu schlendern, dann übersiehst du einfach die Menschen, die in ihren Schlafsäcken irgendwo auf der Strasse liegen und machst in deinen Prada-Schuhen einen lässigen Schritt darüber. Ich verstehe, das System ist schuld und einzelne Personen können den Menschen auf der Strasse hier nicht genügend helfen. Aber sie wenigstens nicht wie Luft zu behandeln wäre doch das Mindeste.
Über Blockaden und eine aussichtslose Stichwahl
Natürlich ist das jetzt ein wenig zugespitzt, es gibt auch sehr viele sehr hilfsbereite Menschen und Organisationen in Paris und überall trifft mensch auf Aktivist*innen. So gehen die zwei Wochen zwischen den Wahlgängen wild zu und her.
Die Université Paris 8 wird von einer studentischen Gruppe blockiert und dann von der Leitung aus Angst vor widerständigen Zusammenkünften geschlossen. Die Sorbonne wird von Studierenden während 30 Stunden besetzt und die EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales) sogar eine Woche lang. Gegen Faschismus, Sexismus, Rassismus und Xenophobie. Gegen die extreme Rechte. Für die Aufnahme aller geflüchteten Menschen, für bessere Sozialleistungen. Gegen die Wahl zwischen Macron und Le Pen, gegen das System.
Die Studierenden leisten kämpferische Revolte, ganz nach dem französischen Revolutions-Charme. Verständlich, wenn die Wahl zwischen einem rechtsextremistischen oder einem neo-liberalen, «nur-für-die-Reichen-guten» Staatsoberhaupt liegt.
Und, wie war das jetzt mit dem Glücklichsein?
Also, warum muss mensch nicht glücklich sein hier? (Natürlich kann mensch sich auch die Frage stellen ob es überhaupt möglich ist, vollends glücklich zu sein und was glücklich sein eigentlich bedeutet, aber das legen wir hier jetzt kurz beiseite).
Vielleicht ist es, weil diese Stadt eine gewisse Faszination mit sich bringt, die nicht wirklich fassbar ist. Zudem ist sie unglaublich unterhaltsam. Es gibt endlos viele Dinge zu tun und zu sehen, es ist komplett überfordernd. Mensch muss gar nicht mehr an sich selbst denken. Mensch kann im Überkonsum aufgehen. Von Kultur und Kunst über Mode und Architektur zu allem Möglichen, was das konsumorientierte moderne Herz so begehren kann. Eine konstante Ablenkung von den eigenen Emotionen kann dazu führen, dass mensch halt nicht direkt glücklich sein muss.
Vielleicht ist es auch das ideologisierte romantische Bild der Stadt, das einem das Herz erfüllt. Vielleicht ist es der bittersüsse Geschmack von revolutionärem Potenzial eines bröckelnden Systems. Vielleicht ist es der absolute Höhepunkt des Kapitalismus mit all seinen Schrecken und ein sich gleichzeitig ausbreitender Nihilismus. Vielleicht ist es nichts von dem oder alles zugleich.
Ach ach.. Ja das schöne Paris! Es gäbe noch so viel mehr zu dieser Stadt zu schreiben, und auch über die vielen tollen Seiten, aber vielleicht muss sich da jede*r selbst ein Bild von machen kommen – Es lohnt sich nämlich!