KUNST-KARAMBOLAGE: Die kryptischen Zeichen des Totholzkäfers8 min read
Reading Time: 6 minutesKUNST-KARAMBOLAGE sind freie, subjektive Texte zu ausgewählten Ausstellungen. Geschrieben von Aline, Anica und Florian.
Diesmal besuchten sie die Ausstellung «Bork» von der jungen schweizerischen Künstlerin Nicole Brugger im Bistro der Zentralbibliothek Luzern. Sie ist bis Ende Mai zu sehen.
Ausschnitt des offiziellen Ausstellungstexts
«Bork» zeigt die Innenwelt der Bäume. Versteckt unter der Rinde werden verborgen ganze Bücher geschrieben, deren Geschichten erst lesbar werden, wenn man innehält, sammelt, die Hölzer entrindet und reinigt. Separiert vom Wald und Bäumen, notiert und dokumentiert, verändert sich die Bedeutung der Käferspuren und man erkennt plötzlich bekannte Zeichen, vertraute Figuren und Formen tauchen auf.
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Psycho,Psycho,Psycho,PSYYYYYCHOOOOOO
Schreibt ein Totholzkäfer angestrengt ins Holz, starrt mich dabei immer wieder erwartungsvoll an, wann checkt die das bloss? Hat irgendwie so einen dümmlich, angestrengten Blick drauf, dieses ich. Der Totholzkäfer schüttelt resigniert den Kopf, bahnt sich nun genüsslicher seinen Weg. «Bis die Mehrheit der Menschen begriffen hat, dass ich kein Borkenkäfer, sondern einer anderen Art mehrerer Tausend Totholzkäferarten angehöre, existiere ich schon gar nicht mehr. Und jetzt stell dir vor, wielange es gehen würde, bis sie endlich meine niedergekauten Hasstiraden verstehen würden. Phu.»
Nicole geht, Nicole knistert, Nicole wühlt und wählt aus, Nicole sammelt, Nicole sortiert, Nicole entschlüsselt, Nicole webt behutsam an einer Pseudowissenschaft. Sie schaut mich streng an, wie ich das sage. «Pseudowissenschaft». Nicole geht davon aus, dass die Gänge der Totholzkäfer, die entstandenen Zeichen, Schriftbilder wären, also bewusst gewählte Kommunikationsmittel. Kein zufälliger Gugus.
Was anfangs noch eine sehr künstlerische Arbeit ist, geht immer weiter Richtung wissenschaftliche und forschende Auseinandersetzung. Was machen denn diese Käfer, wo arbeiten sie, wo gehen sie zur Schule, wie funktioniert der Wald und wo funktioniert er eben nicht mehr oder anders durch des Menschen Eingriff? Wie verändert er sich?
Ich krieche mit Nicole unter die Rinden (Bork), taste nach den Spuren, den menschlichen, tierischen, den organischen, den lebenden. Die Feldborkung im Greterwald ist eine Sightseeingtour im Mikrokosmos der fast Übersehenen. Man kann die buchen, sehr empfehlenswert für Familien und anderes Kaliber.
Der materielle Teil der Ausstellung befindet sich in der Hochburg des Wissens: der Bibliothek. Sorgfältig sind die zugeschnittenen Hölzer mit ihren abstrahierten Schriftformen in einem Setzkasten, ähnlich dem einer Apotheke, aufgereiht. Schubladen können gezogen werden, darin befinden sich Beschreibungen, Erklärungen, Ausführungen über die Forschungsart, Beispiele verschiedener Totholzkäfer. Zusätzlich gibt es eine Publikation, eine feines Heft in Hochformat, in welchem aufgelistete Pflanzenarten erwartet werden können. Pro Seite ein anderer Baum. Oderso. Im Heft wird die ganze Arbeit nochmal beschrieben mitsamt Anleitung zum eigenständigen «Borken», wie Nicole die Tätigkeit dieses Findens, Sammelns und Deutens nennt. Die Arbeit regt an, selbst zur forschenden Figur zu werden, während die Form der Aufbereitung an naturhistorische Museen erinnert und sehr wissenschaftlich erscheint. Und doch, schaut man ganz genau in die Rillen der exakten Exceltabelle (es hat keine Exceltabelle, das ist jetzt alles sehr metaphorisch gemeint liebe Leser:innen), erkennt man die schmunzelnde, poetisch spielende Freundin dieser kleinen Viecher.
– Aline
«Bork» ist eine Work in progress Arbeit von Nicole Brugger, eine fiktive Wissenschaft zu den Schriften von Totholzkäfern. Das Werk fand mittlerweile an zwei Ausstellungen, aber auch in sämtlichen Wäldern, wo Nicole umherstreift und Äste sucht, statt.
Nicole forscht, sammelt, analysiert und interpretiert Spuren von «vier Punkt-Prachtkäfern» und «Kleiner-Wespenbock» Käfern im Totholz von Nadelwäldern aus dem Kanton Luzern. In der aktuellen Show «Bork», in der ZHB Luzern, zeigt Nicole Brugger 144 Äste als Fundstücke oder Werke von Käfer Autor:innen, im Tassenschrank des Bistros. In der gesamten Breite des Schrankes von Nicoles Funden bespielt, wird dieser zu einem Wunderkammer Setzkasten. Jedes Fach des Tassenschrankes wird vollständig ausgefüllt von einem Astfragment mit Käfer Frassspuren und einer analytischen Zeichnung der Spur auf einheitlichem pastellgrünem Papier gezeichnet. Durch die Zeichnung stechen die Spuren bzw. die Schriften direkt ins Auge. Die Spuren haben Schnörkel, ständige Windungen, wechseln zwischen dünnen und dicken Linien und bilden so komplexe Zeichen einer unendlichen Schrift.
Die 144 Fundstücke werden ergänzt durch Informationen in Schubladen des Setzkastens bzw. Tassenschranks, in welchen Nicoles Arbeitsweise, einige Interpretationen zu Fundstücken oder Orten, so wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse gezeigt werden. In ihrer Gestaltung erinnern die Schubladen an Schaukästen in naturhistorischen Museen. In einer zur Ausstellung erschienenen Publikation schreibt Nicole über ihre Forschung, wofür sie Begriffe verwendet wie «Feldborkung» oder «Astschriften.» In der Publikation werden alle ausgestellten Zeichen nummeriert und ihrem Fundort zugeordnet, mit gezeichneten Karten, welche auch Nicoles Wege reflektieren.
Als viertes Element in der Ausstellung «Bork» wird ein Karteikasten gezeigt, welcher die bisherigen Ansätze einer Entschlüsselung der Tothlozkäfer-Schriften zeigt. Im Vergleich zum Setzkasten scheint die Kartei der Spuren-Kryptologie noch etwas klein zu sein. Bei der Entschlüsselung setzt Nicole bei diesen Stellen, wo mit Wissenschaft nicht weiterzukommen ist, auf ihre Fantasie und macht damit ihr Werk noch poetischer und vor allem persönlicher. In einem Text räumt sie ein, dass eine definitive Entschlüsselung auf Grund der Komplexität der Käfer Zeichen vorläufig nicht möglich ist und lädt Betrachtende ihres Werkes ebenfalls ein, nach Bedeutungen in den Käferschriften zu suchen.
Käferspuren als Schrift zu deuten führt zwangsläufig zu einer Vermenschlichung der Insekten. Beim Versuch sich in die Käfer hineinzuversetzen, um ihre scheinbar unerklärlich verschlungenen Fresswege nachvollziehen zu können, wird vielleicht auch der Mensch mehr und mehr zum Tier. In der zur Ausstellung erschienenen Publikation hat Nicole dazu geschrieben: Es werden aus Käferschriften Menschengedichte und aus den Menschengedichten Käfergedichte entstehen.»
Nicole achtet in ihrer Arbeit genauestens darauf, keine Käfer zu belästigen und den Tieren mit höchstem Respekt zu begegnen. Auch bei der Sammlung von Astfragmenten geht es nicht um persönlichen Besitz. Alle Aststücke sollen an der Finissage in den Nadelholzwäldern wieder versteckt werden.
In Nicole Bruggers aktuellen Ausstellung wird das Innere unter der Borke hervorgeholt und die Besuchenden dazu aufgefordert, sich an Pfaden zu orientieren, welche verschlungen durchs Totholz hindurch weisen, langsam aus einem menschenzentrierten Weltbild hinaus.
– Flo
Es sind gewöhnliche Holzstücke in der Ausstellung, die Sie in Ihrer Handfläche halten können, aber auch selber im Wald suchen können. Ein Aha-Erlebnis. Ein Zwerggott mit winzigen Gebetsschriften, ein nie endender Kreislauf, der im kleinen Umfang sichtbar wird. Nicole nimmt uns mit auf einen Spaziergang, im Friedental in Luzern treffen wir uns. Wir begeben uns dann in den Wald hinein und sie beginnt zu erzählen. Zuerst werden Missverständnisse geklärt, wie, dass man den Begriff „Borkenkäfer“ nicht benutzen sollte, sondern „Totholzkäfer“, das wusste ich nicht. An diesem Samstag war der Wald von grünem Blütenstaub gefärbt. Totholzkäfer leben die längste Zeit ihres Lebens unter der Rinde verborgen. Sie erzählt vom „ips Typographus“, seine Spuren erinnern an ein aufgeschlagenes Buch, deshalb auch der Name „ips typographus oder auch Buchdrucker. Mir gefällt diese Parallele zu Nicoles Lebenslauf als Grafikerin. Wir laufen zu einem grossflächigen Platz im Wald auf dem die Äste am Boden liegen und Bäume nicht mehr stehen, wie ein Friedhof, aber ein lebendiger. Ich schalte im Wald in den Museumsmodus. Totholz und Totholzkäfer als ästhetisches Ereignis wahrzunehmen und als ein aus Distanz Betrachtendes Bild zu sehen. Ein historischer Rückblick auf die Wälder in Mitteleuropa erleichtert mir das Ganze besser zu verstehen. Ein Mangel an Waldfläche und Holz kam um das 17. Jahrhundert auf, als die Bevölkerung stetig wuchs, dass Holz jedoch als Ressource abnahm. Damit wurde die sogenannte ökologische Nachhaltigkeit erfunden. Die Menschen forderten schnellwüchsige Bäume, die einen guten Rohstoff in grosser Menge zügig bereitstellen konnten. Das Resultat waren Kiefern und Fichten. So begann die Waldhygiene, eine Einseitigkeit der Baumart, eine Einseitigkeit des Alters. Dies führte zu sogenannten Schadorganismen. Jetzt sterben die Monokulturen aber massenweise ab. Der Käfer beschleunigt diesen Prozess des geschwächten Baumes bis zu seinem Tod, um wieder Platz für junge Bäume zu schaffen. Das ganze ist also eine Jahrtausendalte Auseinandersetzung zwischen Mensch und Totholzorganismus. In der Ausstellung «Bork» in der Zentral- und Hochschulbibliothek zeigt Nicole Äste und Rinde, die von Käferspuren durchzogen sind. Neben der Sammlung von 144 Astschriften und Dokumentationen beginnt eine Entschlüsselung der fiktiven Sprache «Bork». Die Entschlüsselung der Schrift ist nicht möglich, es ist jedoch möglich, diese zu suchen und sich der Recherche hinzugeben, um die Schrift dann mit dem zu verknüpfen, was man glaubt zu wissen oder identifizieren zu können. Wer die Ausstellung von Nicole Brugger in der Zentralbibliothek in Luzern betritt, ist zunächst mit der Cafeteria konfrontiert, mit Menschen, die vielleicht die Süddeutsche lesen oder eine Pause machen, nachdem sie für die Uni gelernt haben. Ganz hinten in einem Holz Regal ein Verzeichnis und eine Grossinstallation von zersägten Holzstücken, sorgfältig in die Kästchen gelegt, nummeriert und pro Kasten eine Zeichnung der Schriften auf grünem Papier. Wir verwechseln oft das Kleine mit dem Niedlichen. Bei Totholzkäfern verwechseln wir sie mit dem Begriff Schädling. Was Nicole hier zeigt, was Form bekommt, hat nichts Niedliches oder Gefährliches an sich, sondern ist einfach so, wie es ist. Während die Wissenschaft auf das Eindeutige setzt, erweitert Nicole das Wissen in das Erfahrbare.
– Anica