Die Demonstration der demolierten Demokratie – «Freiheit Fortschritt Faterland» vom Kollektiv Dionysos3 min read
Reading Time: 2 minutes«Wir wollen sein ein einig Volk von Schwestern». Diese Modernisierung des Rütlischwurs ist Sinnbild für den Rundumschlag gegen die Missstände der Demokratie, den das Kollektiv Dionysos mit aller Schärfe und Ehrlichkeit aufs Parkett bringt. Wer schon immer die demokratische Vollkommenheit bemängelte, weiss nach der neusten Produktion weswegen. Und doch bleiben fundamentale Fragen offen…
Die Probleme der Demokratie kreiden ihr die drei Spielerinnen von Anfang an in aller Deutlichkeit an, während im Hintergrund das Symbol ebendieser Volksherrschaft hängt: die Schweizerfahne. Für Konservative pure Blasphemie, für Catherine Claessen (Regie), Anton Kuzema (Dramaturgie) und Noah Beeler (Produktionsleitung) das aufklärerische Kontrastmittel. Die heutigen Strukturen basieren auf Blut und Schweiss unterdrückter Arbeiter*innen. Rechts und links bleiben getrennt und sind sich fremd, die Mehrheit entscheidet über marginalisierte Minderheiten und paar Tausende sorgen per Abstimmung, dass, anstelle eines rettenden Leuchtturmes, ein Wachturm Flüchtlinge ihrem tödlichen Schicksal überlässt. Schuld trägt immer ein Arschloch und die heutigen Weltprobleme baden nicht diejenigen aus, welche sie zu verantworten haben.
Eine ideenreiche Szenografie mit verschiedenen theatralen Phänomenen
Die packende Inszenierung löst wiederholend die tradiert räumlich-funktionelle Trennung des Bühnentheaters auf: Das Durchbrechen der Vierten Wand, die Partizipation des Publikums oder das Bespielen der Tribüne verleihen der Produktion postdramatische Züge. In Kombination mit den epischen und illusionistischen Szenen wird die Inszenierung abwechslungsreich und unvorhergesehen. Die einheitliche Klang- und Lichtgebung erschafft eine gespannte Ruhe und erweitert das schlichte Bühnenbild bestehend aus Zeitungsstapeln, hängenden Elementen und der grau-schwarz-weissen Farbgebung.
Ein Black gibt es nicht. Die Szenenübergänge werden als offene Umbauten genutzt, in denen die Zeitungsstapel durch Anordnung neue Repräsentation erlangen. In komödiantischer, lockerer Art nutzen die drei Spielerinnen diese Minuten, um aus den Charakteren zu treten und kurzzeitig in die Realität des Raumes zurückzukehren. Die lang andauernden Umbauten sind zu Beginn gewöhnungsbedürftig und verziehen die Dichte des Starts. Zu verschulden ist dies der Menge an Zeitungen. Diese Wartezeiten können seitens des Publikums aber auch für die Reflexion der eben vorangegangenen Szene und zum Durchatmen genutzt werden. Die drei Charaktere, deren Kostüme von Lina Küenzi kreiert wurden, repräsentieren das Patriarchat, das Bürgertum und das Proletariat. Die Arbeit macht das Proletariat, den Lohn kriegen die anderen. Es ist wütend, versucht sich zu wehren, will das Patriarchat und Bürgertum fesseln und im Moment des grossen Hilferufs ist es das Bürgertum, welches mit «Pflästerlipolitik» das Leid verunglimpft: «Alles esch guet. Ech chome drus». Doch das Problem ist tiefgründig, es ist strukturell.
Die Fragen nach der anderen Struktur
Die Weltlage widerspiegelt, dass die Demokratie kein Garant für Freiheit, Fortschritt und ein Vaterland ist. Bestehende Strukturen müssen hinterfragt und progressive Errungenschaften immer wieder auf das Neue erkämpft werden. Die humoristische, feministische und zeitgeistliche Produktion offenbart Tatsachen, welche man in privilegierter Position gerne ignoriert. Doch mit der Kenntnis über diese Missstände kommt am Schluss die Lethargie. Die Demokratie im Stück hat ein fundamentales Problem: Sie erkennt diese Probleme nicht. Sie ist selbst das Problem. Bevor die Antwort darauf geboten wird, erklingt der Schlussapplaus im Theaterpavillon und im Nachhinein überlegt man sich: Gibt es Besseres als die Demokratie oder bloss eine bessere Demokratie? Benötigt es eine Reform oder eine Revolution? Ist eine Postdemokratie ein Fort- oder Rückschritt?
Autor: Léon Schulthess
Fotos: © Mariia Kostenko