Gesellschaft Magazin

«Alle haben ein Recht auf Stadt» Über die Besetzung der Bruchstrasse 649 min read

19. April 2023 6 min read

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«Alle haben ein Recht auf Stadt» Über die Besetzung der Bruchstrasse 649 min read

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Mediale, politische und zivilgesellschaftliche Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten, als im Sommer 2022 eine aktivistische Gruppe die Bruchstrasse 64 in Luzern besetzte. Doch mit dem Ende der einmonatigen Besetzung verebbte auch die mediale Berichterstattung abrupt. Aus diesem Grund geht frachtwerk nun der Frage nach, was während und seit dem Ende der Besetzung passiert ist.

Es ist ein sonniger und kühler Wintermorgen, an welchem ich mich in die Bruchstrasse begebe.  Ich mache vor der Bruchstrasse 64 halt, um mir das Haus genauer anzuschauen. Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass das Gebäude im letzten Jahr landesweit mediale Bekanntheit erhielt. Abgesehen von einigen vorbeilaufenden Passant:innen ist niemand zu sehen. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass kaum eines der Fenster einen Blick ins Innere zulässt, Jalousien versperren die Sicht. Selbst die Beschriftung der Klingelschilder erweckt den Eindruck von Normalität, obwohl wenige Monate vorher der Ausnahmezustand herrschte und das Haus derzeit unbewohnt ist.

Die Geschichte geht so: In der Nacht auf den 21. Juni 2022 wurde das Haus durch das «Kollektiv Bruchscetta» besetzt. Unter dem Motto «Umbruch im Bruch» sollte auf Gentrifizierung, Wohnungsknappheit und Immobilienspekulation aufmerksam gemacht werden. Unter anderem berichteten in Luzern 20 Minuten, die Luzerner Zeitung, Nau.ch, Zentralplus und Kultz über die Besetzung und sogar der Mieterinnen- und Mieterverband schaltete sich in die mediale Diskussion ein. Die Immobilie stand seit über zwei Jahren leer, nachdem sie durch die Corgi Real Estate AG im Jahre 2019 gekauft und unter Einbezug der Denkmalpflege hätte saniert werden sollen.

Das Kollektiv Bruchscetta beendete diesen Leerstand durch ihre Besetzung. Acht Tage nach Besetzungsbeginn reichte die Corgi Real Estate Strafanzeige gegen Unbekannt ein. Am 7. Juli folgte die Aufforderung, den unberechtigten Aufenthalt zu beenden. Da Hausfriedensbruch ein Antragsdelikt ist, wurde die Luzerner Polizei erst nach dem Eingehen der Anzeige aktiv. So wurde die Besetzung in den frühen Morgenstunden des 21. Juli beendet; je nach Sichtweise handelte es sich bei der Aktion um eine «Räumung» oder eine «Auflösung».

Auch die mediale Berichterstattung endete abrupt; niemand schien sich mehr für die einmonatige Besetzung, ihre Wirkung oder das Schicksal des «Kollektiv Bruchscetta» zu interessieren. Um das mediale Schweigen zu brechen und um mehr über die Besetzung und ihre Folgen für die Beteiligten zu sprechen, durfte frachtwerk im Frühling 2023 mit einer an der Besetzung beteiligten Person sprechen.

Interview mit dem Kollektiv Bruchscetta

frachtwerk: Wie ist die Besetzung zustande gekommen?

Kollektiv Bruchscetta: Die Besetzung ist durch eine Gruppe entstanden, welche motiviert war, und es immer noch ist, Luzern zu bewegen. Durch Menschen, die sich dafür einsetzen, dass es in Luzern wieder mehr links-autonome und unkommerzielle Orte statt leerstehende Häuser gibt. Menschen, die sich gegen die Gentrifizierung und Spekulation stellen und sich für günstigen Wohnraum in der Stadt Luzern einsetzen. Wir finden es wichtig, dass alle in der Stadt leben können, unabhängig von ihrer finanziellen Lage. Alle haben ein Recht auf Stadt, nicht nur die, die es sich leisten können. Das Projekt ist aus der politischen Dringlichkeit, der gemeinsamen Motivation und der Wut auf das reiche Bünzlitum entstanden, welches sich leisten kann, Häuser jahrelang leer stehen zu lassen.

frachtwerk: Wie sah der Alltag in der Bruchstrasse 64 aus?

Kollektiv Bruchscetta: Es ist schwierig, «den» Alltag zu beschreiben, weil er sich aufgrund der rechtlichen Lage und der Umstände immer wieder verändert hat. Auch sah der Alltag der einzelnen Personen unterschiedlich aus. Die Häufigkeit der Anwesenheit, Lohnarbeit und momentane Lebensumstände spielten jeweils eine grosse Rolle. Meistens hatten wir morgens Sitzung, um den Tag zu planen. Wir besprachen, wer vor Ort war, welche Todos anfallen, klärten Wünsche und Bedürfnisse ab und schauten, wer in der Besetzung übernachtet. Danach wurden wir aktiv, haben recherchiert, Medienarbeit betrieben, Transpis gemalt, Veranstaltungen geplant und durchgeführt, gekocht, geputzt, geschrieben, gelesen und uns viel miteinander ausgetauscht. Abends wurde zusammen gegessen. Dazu hatten wir mehrere Male pro Woche grössere Sitzungen, in welchen wir weitere wichtige Schritte gemeinsam besprachen und kollektiv Entscheidungen getroffen haben.

Gemeinsam in einer Besetzung zu leben bedeutet, sich täglich mit politischen Themen auseinanderzusetzen, zu verhandeln, welche Position wir als Kollektiv einnehmen wollen und zu planen, wie es weitergehen soll. Es bedeutet auch, gemeinsam herauszufinden, wie ein Zusammenleben und Wohnen jenseits von altbürgerlichen Normen aussehen kann. Das beinhaltet logischerweise viel Arbeit, aber auch jede Menge Spass!

frachtwerk: Welche Reaktionen habt ihr erhalten auf die Hausbesetzung?

Kollektiv Bruchscetta: Aus dem Quartier haben wir sehr viele positive Reaktionen erhalten. Die Menschen zeigten sich interessiert und solidarisch. Leute kamen vorbei, wollten wissen, was da geht, was und warum wir das machten. Sie brachten Essen, Zeitung oder Kerzen vorbei. Als uns Fritz Burkhard [der Besitzer der Liegenschaft, Anm. des Autors] den Strom drosselte, hat uns die Nachbarschaft solidarisch Strom zu Verfügung gestellt. Es war unglaublich schön zu sehen, dass ein Austausch stattfand. Es war eine schöne Zeit, mit all diesen Menschen, die uns unterstützten. Natürlich gab es auch kritische Stimmen. Mit diesen konnten wir allerdings keine vertieften Gespräche führen, da diese meistens auf ihrem Velo vorbeifuhren und sie für ein Gespräch zu schnell unterwegs waren…

Hausbesitzer Fritz Burkhard hat sich lange nie selbst zu Wort gemeldet. Trotz mehreren Kontaktaufnahmeversuchen konnten wir weder mit ihm noch mit seinem Vize sprechen. Niemand war bereit, ein wirkliches Gespräch über unsere Anliegen und über die Problematik zu führen. Über Medienschaffende erfuhren wir, dass Herr Burkhard Strafanzeige erstattet hatte. Schätzungsweise nach einer Woche Besetzung hatten wir Kontakt mit der Anwältin von der Corgi Real Estate. Sie stellte uns lediglich ein Ultimatum, das Haus innerhalb einer Woche zu verlassen.

frachtwerk: Wie schätzt ihr die medialen Reaktionen ein? Waren sie wohlwollend oder kritisch?

Kollektiv Bruchscetta: Die medialen Reaktionen waren sehr positiv. Dadurch, dass es eine Besetzung an einem sehr zentralen Ort in Luzern war und es vorher in Luzern lange keine Besetzung mehr gab, konnte die Besetzung viel Aufmerksamkeit erzeugen. Die Besetzung hat zu einem wichtigen Diskurs in Luzern geführt, der sicherlich viele Menschen dazu gebracht hat, sich über die Problematik zu informieren und eine Haltung zu bilden. Dies war auch eines unserer Ziele, auf die Gentrifizierung, der Immobilienspekulation und auf die sozialen Ungerechtigkeiten, die damit einhergehen, aufmerksam zu machen.

frachtwerk: Wie ist die Beendigung der Besetzung vom 21. Juli abgelaufen?

Kollektiv Bruchscetta: Die Polizei drang gewaltvoll ins Haus ein. Wir wurden durch einen Einsatz der Luzerner Polizei aus dem Haus geräumt. Das Haus wurde daraufhin verbarrikadiert. Es befinden sich seit der Räumung Stahlgitter hinter den Fenstern, wahrscheinlich bis in den zweiten oder dritten Stock. Ausserdem lässt die Corgi Real Estate das leerstehende Haus Tag und Nacht von Security bewachen. Corgi Real Estate kann es sich leisten, monatelang ein leerstehendes Haus bewachen zu lassen, während die Mieten weiterhin steigen, Menschen keine Wohnung haben und in die Agglo vertrieben werden.

frachtwerk: Wie schätzt ihr die Beendigung der Besetzung ein?

Kollektiv Bruchscetta: Wir wollen noch einmal betonen, dass es sich bei der Auflösung der Besetzung um eine Räumung handelte. Die Polizei versucht immer wieder, Räumungen als Hausdurchsuchungen herunterzuspielen. Doch Menschen aus einem Gebäude abzuführen, dieses komplett zu verbarrikadieren und den Angehörigen unseres Kollektivs ein kostspieliges und energieraubendes Strafverfahren anzuhängen, hört sich verdächtig klar nach einer Räumung an. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass die eigentlichen Verbrecher:innen dieses Falles nicht diejenigen sind, die nun dafür bestraft werden, einen Monat lang Leben in das Haus an der Bruchstrasse 64 gebracht zu haben. Da wir aber grundsätzlich das Konzept der Bestrafung kritisieren, fragen wir uns lieber: Wie möchten wir als Gesellschaft damit umgehen, dass gewisse Personen die Macht haben, ohne mit der Wimper zu zucken, Gebäude jahrelang leer stehen zu lassen, während andere Menschen ihr zuhause aufgeben müssen, weil sie sich die steigenden Strompreise und Mieten einfach nicht mehr leisten können?

frachtwerk: Was ist seit der Besetzung mit dem Haus passiert?

Kollektiv Bruchscetta: Das Haus an der Bruchstrasse steht nach über einem halben Jahr nach der Räumung immer noch leer. Die Corgi Real Estate behauptet, sie hätten konkrete Baupläne für das Gebäude. Nicht, dass wir das wirklich geglaubt hätten, aber: Wo sind diese Baupläne und wo ist das angeblich eingereichte Baugesuch?

frachtwerk: Welche strafrechtlichen Konsequenzen resultieren für euch?

Kollektiv Bruchscetta: Drei Aktivist:innen wurden wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Verleumdung angeklagt. Die letzten beiden Anklagepunkte wurden inzwischen fallengelassen. Zusätzlich wurde eine Zivilklage erhoben durch die Anwältin der Corgi Real Estate. Die gewichtigsten Konsequenzen sind finanzieller Art. Die Anwältin der Hauseigentümer der Firma Corgi Real Estate wird mehrere tausend Franken Anwaltskosten geltend machen, dazu kommen die Kosten der Strafverfahren und Zivilklage. Das Bruch Kollektiv ist auf Unterstützung angewiesen – Solidarität bruchts witerhin! Wir sind gerade daran, Merch und Events aufzugleisen, um diese horrenden Geldstrafen kollektiv decken zu können.

Nachfrage bei der Luzerner Staatsanwaltschaft

Wir suchten das Gespräch mit Simon Kopp, Informationsbeauftragter der Luzerner Staatsanwaltschaft: Er betont, dass die Hausdurchsuchung friedlich, ohne Komplikationen oder Widerstände und im gesetzlichen Rahmen verlief. Zudem erfahre ich von ihm, dass erst eines der drei Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Die beschuldigte Person hat den Strafbefehl akzeptiert. Das Urteil: Hausfriedensbruch nach Artikel 186 des Strafgesetzbuches. Die Strafe beläuft für den Hausfriedensbruch, weitere Tatbestände von anderen Vorfällen und inklusive Gebühren auf knapp 3200 Franken.

Dazu kommen über 2500 Franken welche die Anwältin der Corgi Real Estate als Privatklägerin geltend macht. Dies entspricht einem Drittel ihrer Gesamtkosten, welche vor allem aus ihrem Lohn besteht: Die Anwältin darf, gesetzlich vorgeschrieben, einen maximalen Stundensatz von 230 Franken verrechnen. Zwei Verfahren wurden von den Beschuldigten an die nächste richterliche Instanz weitergezogen und sind deswegen noch hängig. Sollte die Privatklägerin recht bekommen, fallen zusätzliche Verfahrenskosten für die Angeklagten an.

Die Besetzungsgeschichte ist also heute alles andere als abgeschlossen. Weder sind sämtliche Urteile rechtskräftig, noch scheint das «Kollektiv Bruchscetta» am Ende zu sein. Zumindest auf Social Media gibt es ab und zu Hinweise auf Veranstaltungen und Aktionen, welche teilweise auch in Zusammenhang mit anderen aktivistischen Themen stehen. Die Debatten rund um Wohnungsknappheit und bezahlbaren Lebensraum haben zudem innerhalb des letzten Jahres noch mehr an Bedeutung gewonnen, jedoch vermehrt in Zusammenhang mit migrations- und asylpolitischen Themen. Fest steht: Es wird nicht die letzte Luzerner Besetzung und nicht die letzte hitzige Diskussion dazu gewesen sein.

Bildquellen
Foto von der Bruchstrasse 64: Eigene Darstellung
Beitragsbild: Instagram-Profil vom Kollektiv Bruchscetta

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