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Die Kilbi 2023: Grosse Energie, Experimente, kein Retreat10 min read

5. Juni 2023 7 min read

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Die Kilbi 2023: Grosse Energie, Experimente, kein Retreat10 min read

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Auch dieses Jahr verfehlte die Kilbi nicht zu überraschen und das Vakuum des Ungewissen mit einer diversen Masse an musikalischen Projekten auszufüllen. Man wird an der Kilbi herausgefordert, man trainiert seine musikalischen Synapsen. Es gibt wenig Zeit um seine Sinne auszuruhen, es werden Sounds um die Ohren gehauen und mit körperlichen Performances irritiert und zugleich begeistert. Besonders technische Virtuosität und stilistische Experimenten sowohl in Musik als auch Showkonzept stehen im Zentrum der diesjährigen Ausgabe. 

 

Das Opening

Schon mit einem grossartigen ersten Act MinReCuliao, startet die Kilbi damit, Konventionen aufzubrechen und Neues zu probieren. So wird nämlich das Festival mit einem Rave eröffnet. Bereits am Nachmittag haut die erste Club Show den ersten Besucher:innen der Kilbi harte Hardcore-Tracks um die Ohren. Damit wird schon hier klar: diese Ausgabe der Kilbi wird energetisch, nervös und lässt wenig Platz um zu ruhen oder sich in Bekanntem wiederzufinden. Schon im Vorfeld ertönt von verschiedenen Stimmen, dass nur wenige Artists den Besucher:innen bekannt seien, so bleiben aber eben genau diese Elemente der Neugier und des Entdecken unversehrt und es wird ermöglicht, sich unvoreingenommen in das Festivalgeschehen hineinzustürzen.

 

Technik und Atmosphäre

Dieses Jahr stand an vielen Konzerten besonders das Technische im Zentrum, mit dabei Vokal Virtuositäten wie Marina Herlop, die beinahe bionisch auf der Bühne auftritt, mit glasklaren Vocals ihrer selbst und auch ihrer Begleitung, aber auch die Growls der Band Soul Glo, oder auch Bands wie Markus Ernestus’ Ndagga Rhythm Force,  Gnod oder Comet is Coming begeisterten besonders auch damit, wie die Künstler:innen ihre Instrumente beherrschen. Auch Groove als Element war dieses Jahr enorm wichtig, sei es schwere Gitarrenriffs wie bei Moin oder auch schnelle Hardcore-Kicks bei Deli Girls oder Aggro-Breaks wie bei LustSickPuppy. Besonders Deli Girls ist ein kanonisches Beispiel dafür, wie die Kilbi dieses Jahr Diversität schafft. Einerseits gibt es eine rückblickende Note mit Emolooks der Artists, verbunden mit Screamo-Vocals, dass sich aber durch die «trendcorige» Kombination mit HC-Elementen und Autotune zu einem eklektischen zeitgenössischen Projekt zusammensetzt. Dabei wird sowohl technisches in Autotune und Kombination verschiedener Stilmittel thematisiert, aber besonders mit den Rave-Elementen, wird eine Qualität geschaffen, die das Publikum in einer krassen Energie abholt.

Jedoch blieben in diesem Jahr grosse Emotionen und überwältigende Atmosphären eher zurückhaltend, wo man sich an letztjähriger Ausgabe an Oklou, Elischa Heller oder Víz erinnert, fällt auf, dass sinnliche, emotional-ästhetische Noten neben dem Aspekt der Technik und des Fokus’ auf Instrumentelles und Materielles, eher abfielen und kleiner traten.  Jedoch wurde aber auch mit Courtesy‘s Ambient Projekt eine nostalgische Komponente reingebracht die das Publikum auf einer ganz anderen, viel behutsameren Note abholte, als dies die Mehrheit der anderen Künstler:innen tat, bei denen entweder mitgerissen, irritiert oder fasziniert wurde.

 

Körperlichkeit & Energie

Der absolute Höhepunkt der Kilbi 2023 war definitiv die Show der Künstlerin Baby Volcano. Sie lieferte unterstützt und begleitet durch Rebecca Solari, auch bekannt als fulmine, und Nathalie Fröhlich und zahlreichen weiteren Performer:innen eine Show auf der Bühne wie man sie im Bereich des experimentelleren heutzutage, selten sieht. Schon durch die erste Aufstellung der Bühne; links und rechts, DJs an ihren Geräten und Baby Volcano in der Mitte, mit gestrickter Balaclava und Meshtop und ernstem Blick, entsteht eine grossartige Energie. Plötzlich schreitet eine Armada von Tänzer:innen auf die Bühne. Jede tanzt erst in eigenem Stil bevor sie immer wieder zu einer gemeinsamen Choreographie mit Baby Volcano einsetzen. Sporadisch wechselt die Dynamik von einzelner Emanzipation und hin zu gemeinsamer Machtstruktur. In dem Moment als Rebecca Solari und Nathalie Fröhlich unter tosendem Applaus die Bühne betreten, ist die Armee komplett. Mit Tracks wie «Swiss Anxiety» und abwechselndem und gemeinsamen Twerking und lauten Schreien von Fröhlich und Solari macht die Performance klar, dass hier Kontrolle über sich selbst und Kontrolle über das System angestrebt wird und sich dazu genommen wird was nötig ist. Das Publikum wurde durch die Performance gepackt von einem Gefühl der Community und damit verbundenen Euphorie. Das Konzert ist eine Zeremonie, das mit dem Publikum bestritten wird, durch mitreissende Reggaetonrythmik werden die Zuschauenden mitgerissen, durch die 808 Bässe wird die Präsenz und potenzielle Macht markiert.

Baby Volcano / Bild: frachtwerk

Auch an anderen Konzerten wird besonders Energie und Körperlichkeit sehr in die Performance eingeflochten. Ein überraschendes Konzert von der australischen Band und viralem Internet-Phänomen The Chats, welche auch durch ihre Bühnenpräsenz überzeugen. Obwohl sie in ihrem Sound und auch in der Performance nicht viel Neues an Stilistik mitbringen, überzeugen sie durch ein sehr authentisches Auftreten einer jungen Garage-Punkband, die sich gerade in dieser ästhetisierten Form fast schon in einem Klischee wiederfindet, aber eben genau auch damit wunderbar funktioniert. Immer wieder betreten Menschen die Bühne, und springen in die Crowd und surfen darüber, auch dies wird von der Band nicht mal gross beachtet, sondern als eine energetische Selbstverständlichkeit behandelt. Während dem Konzert unkommentiert, bedanken sie sich doch zum Schluss für Crowd Surfing und Energie seitens des Publikums.

Auch Blackhaine überzeugt durch Energie und Performance. Versteckt hinter einer Scheibe des Bühnennebels interragiert er kaum mit dem Publikum. Diese Form seiner Präsenz erscheint aber als derart ausgestellt, dass er genau damit auch überzeugt. Er kämpft während des Konzerts konstant mit sich selber. Die ganze Performance ist sehr wirr, sehr energetisch geladen und düster. Stilistisch wechselt es von Drill und Grime zu Harsh Noise oder mächtigen Basselementen. Während sich Blackhaine auf der Bühne windet und um sich schlägt und schreit beobachtet man ihn in Sicherheit des «Smokescreens» wie ein Tiger im Käfig, bis er dann aber aus dieser Bühne ausbricht und ins Publikum springt. Auch hier funktioniert das Konzert in einer grossen Energie und verbundenen Stilementen die hier besonders markant werden, durch die klaren Brüche, die im Konzert gesetzt werden.

Ein Konzert wo die Kombination verschiedener Ebenen leider gar nicht funktionierte, war das Konzert von Amnesia Scanner und Freeka Tet.  In der Musik zwar genau so überzeugend und spannend wie immer, verfehlten sie jedoch in ihrer Performance jegliche solcher Qualität. Obwohl zwar die visuellen Elemente auf den drei Screens hinter ihnen spannend waren, wünschte man sich aber während des Konzerts, dass sich die drei Artists für eine Ebene entschieden hätten. Nämlich gab es neben den drei Bildschirmen eine weitere Ebene mit dem Duo Amnesia Scanner, und dazu noch als Lead Freeka Tet im Hoodie und bewaffnet mit einem Leuchtmikrofon, mit dem er gelegentlich ins Publikum zündete. Es schien, als ob sie sich nicht dafür entscheiden konnten, ob sie jetzt möglichst sich auf der Bühne ausstellen wollten, oder eben durch Dunkelheit, Gegenlicht und viel Rauch, Absenz markieren wollten. Und so entstand zwischen all diesen Versuchen und skizzierten Elementen eine Gesamtmasse, die derart nicht funktionierte, so dass im Publikum auch die Energie eher ausblieb und die Menschen mehr Gespräche führten als den Fokus zur Musik zu leiteten. Der zentrale Punkt ist, dass zu keinem Moment ein additives Element zu ihren Studio Tracks inszeniert wurde, und man sich nach dem Sinn der Performance fragte, denn Musik und Videoarbeit hätten genauso gut isoliert in einem Musikvideo oder auch einer Installation funktioniert, ohne dass drei düstere vermummte Gestalten dafür hätten stehen müssen.

Das Einzige was man an dieser Kilbi vergeblich suchte, waren Momente des Behutsamen und des Ruhigen. Die einzigen solcher Momente, waren das Konzert von Courtesy mit 90-er Hits in Ambientform und das Videoscreening von Neuerdings. So wurde man in das wilde Getose verschiedenster Experimente und Musikbereiche geschmissen und nur in wenigen Momenten kam es zu Momenten des Vertrauten und des Komforts. Aber genau dies ist auch genau ein Moment, das eben die Kilbi ausmacht, man wird hier nur selten bedient, sondern herausgefordert. Die Kilbi Bad Bonn ist kein Retreat, sondern ein Trainingslager für Ästhetik. Es geht darum sich selbst in seiner musikalischen Rezeption zu überraschen, als sich auf die Couch der Echokammer zu setzen. Und diese Qualität wurde an der diesjährigen Kilbi wieder hochgehalten.

 

Experimente & Diversität

Ein weiterer, und gerade dreifacher Höhepunkt, waren die Konzerte der finnischen Band Muovi Pussi. Eine Band mit Hintergründen im Zirkus und der sozialen Arbeit, brachte mit ihren Performances die verstörendste und damit aber auch spannendste Show der diesjährigen Kilbi auf die Bühne. Es werden lachende Babys und eine klirrende Handtasche geschwungen, die eine Künstlerin isst ein Mikrofon mitsamt dem Stiel und hängt sich an ihrem Haar an einen Baum, die andere schreit dem Publikum, wie am Spiess entgegen und der dritte klemmt sich das Bein hinter den Kopf und bringt immer wieder Vogue Tanzeinlagen dazwischen. Mit zwar, kurz auftauchenden, musikalischen Popkulturreferenzen, ist diese Band aber in einer puren Hingabe zur performativen Avant Garde. Selbst in Momenten wo die Technik ausfällt,  als eines der Mikrofone spinnte, wird dies mit visueller und verbaler Komik ausgefüllt. Die drei Artists toben auf der Bühne mit einer extremen Energie und geben sich total in die Performance hinein, verlieren aber doch nie den Draht zum Publikum, was sich auch in der jeweiligen Begeisterung des Publikums an allen drei Konzerten als Qualität abzulesen ist.

Muovi Pussi / Bild: frachtwerk

Einer der einzigen Momente der Ruhe, war das Screening dreier Videoportraits produziert vom SRF 3, gefolgt durch eine kurze Performance von Julian Sartorius. Es wurden Bänke in den Club gestellt und damit ein kurzer Moment des Kinos veranstaltet. Die Zuschauer:innen beobachteten die Videos ruhig und kaum jemand verliess dabei den kleinen Projektionsraum. Das Publikum schien sich wohl zu fühlen. Dies war in seiner Energie ein besonders toller Moment, ein Moment der als sehr fremd aber sehr angenehm an der Kilbi erschien. Ein Element dass im Rahmen des Festivals rasch hätte übersehen werden können, aber durch seine Natur als Premiere des Projekts doch mit einer Art der Ereignishaftigkeit verbunden wurde und so doch einzelne Gäst:innen des Festivals neugierig dahin gezogen wurden.

Auch eine Rapperin wie 070 Shake an einem avantgardistisches Festival wie die Kilbi eines ist, einzuladen, ist ein Experiment. Dies erscheint schon fast als etwas aktivistisches; es braucht an der Kilbi Platz für Alle und Alles, was sich in der musikalischen Welt bewegt. So werden damit zum Ersten Menschen angezogen, die ansonsten vielleicht niemals den Weg nach Düdingen gefunden hätten, und aber werden vielleicht auch die sturen Avant Gardisten des Kilbipublikums dazu aufgefordert oder angeregt ihren Horizont erneut zu erweitern. Wenig überraschend brilliert natürlich die Rapperin in ihrer Performance, das Publikum scheint begeistert, aber auch kommt die Energie nicht in die Nähe einer Muovi Pussi oder Baby Volcano Show.

Insgesamt erlebt man also auch dieses Jahr wieder eine gelungene Kilbi, viel Raum für Experimente, Raum für Neues, Plattform für verschiedenste Arten der Musik und Menschen und auch Treffpunkt einer Diversität an Personen im Publikum, die sich so sonst selten in dieser Form auf einem Haufen ansammeln. Der Komfort der beispielsweise in der letzten Ausgabe mehr wahrnehmbar war, wird einem entrissen, stattdessen wird man angenehm gezwungen, Neues zu erfahren und sich selbst überraschen zu lassen. Die Kilbi 2023 raste vorbei und zog das Publikum mit sich, ohne aber nach dem Startpfiff gross nach Befinden abzutasten, aber genau dafür unterschreibt man, vielleicht unbewusst, mit dem gestressten Kauf eines Tickets.

Titelbild: Patrick Principe

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