KUNST-KARAMBOLAGE – Spuren einer Existenz im Kunsthaus Zofingen6 min read
Reading Time: 5 minutesKUNST-KARAMBOLAGE sind freie, subjektive Texte zu ausgewählten Ausstellungen. Geschrieben von Aline, Anica und Florian.
Diesmal besuchten sie die vergangene Ausstellung «Mindmapping Art» im Kunsthaus Zofingen.
Ausschnitt des offiziellen Ausstellungstexts
Mindmapping, die visuelle Methode, um komplexe Gedanken, Ideen und Assoziationen zu einem zentralen Thema darzustellen, verbindet die drei Kunstschaffenden Françoise Caraco (1972), Esther Ernst (1977) und Gianluca Trifilò (1982). Die drei untersuchen Zusammenhänge und verdichten die Bezüge in Mindmap- artigen Installationen oder kartografischen Zeichnungen.
––
– Anica
Über zwei Stockwerke ziehen sich Verortungen. Als ich in den zweiten Stock emporkriechen will, verwirre ich mich bergab auf die Toiletten. Auch gut, immer gut, die sind grossgeschnitten und sprechen von früheren Zeiten. Oder verwechsle ich sie gerade mit einer anderen Toilette in Zofingen? Von der im «zum Rathaus»? Warum sind Toiletten eigentlich selten oben? Vielleicht liegt das an den Leitungsnetzwerken, dem Spinnengewebe des diskreten Wassers. Hab deine Scheisse wegtransportiert. Aber heimlich.
Drei Suchende sind ausgestellt. Françoise Carco gräbt sich in die vergessene Biografie ihrer in Zofingen geborenen Urgrossmutter. Vergessen, weil oft nur Wahrscheinlichkeiten bleiben. In den Archiven blieben nur die Namen der männlichen Blutlinie. Einzig im Geburtsregister ist Urgrossmutters Name aufgeführt. Françoise sucht nach ihr in der Spieglung vererbter Suppenlöffel, sitzt mit ihr am Fenster und beobachtet die Vögel der Zeit. Zofingen 1889, der Kuckuck pickt das Insekt aus der Welt, die Grossmutter läuft der Judengasse entlang, weg aus dem Dorf, warum sind sie weggegangen? Die Antwort darauf bleibt hypothetisch, das Löschpapier hat die Geschichten der Zeit eingesogen, aber seine Sprache bleibt uns unverständlich.
Esther Ernst macht Kartografien aus Begegnungen. Sie zeichnet sorgfältig auf grosse Formate, Landschaft des Zwischenmenschlichen, Begegnung mit dem Geheimnis eines Ortes, Beobachtung einer Geschichte, architektonische Erzählstrukturen, sie macht dabei keine Unterschiede, das Topografische kann auch eine Freundschaft sein. Es kommt mir vor, als würde sich Esther ständig neu verorten (müssen?), als wäre sie Pendlerin, Spazierende der Kaffs und Grossstädten, orientierungssuchend, unruhig, sich immer wieder fremd und immer wieder zuhause auffindend. Struktursuchend, Ähnlichkeiten findend und alles wieder verwerfend.
Gianluca Trifilò zeigt drei Arbeiten, sie sind stärker voneinander getrennt, als es die Arbeiten der andern beiden sind. Ein riesiges Mindmap bestehend aus Beipackzetteln, venenartige Verbindungslinien, durchs Blut fliesst das von der Ärtzt:in verschriebene Medikament, auf Bahnhofstoiletten wird das Licht blau gefärbt, dass Venen nicht mehr zu erkennen sind. Eine komische Sensationsgier verkauft «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» bis heute. Ich habe es auch gelesen und fuhr auf Drogendokus ab. Die Kommerzialisierung, fragen sie ihren Arzt oder Dealer, Staat, Kosten, Verkauf, Leistungstauglichkeit, Effizienz, Profit, Maschine, Cyborg, werde das Beste deiner Selbst, Säfte, alle Vitamine und alle reinpassen, anpassen, Schema F, bitte berechenbar sein. Divergent werden statt Einquetschversuche anstellen, neu sortieren, neu orientieren.
Im zweiten Stock wird Kauderwelsch aus Schultischen ausgestanzt, Löcher ins Gehirn gefressen. Also nicht Kauderwelsch, es sind Zahlen und Sätze, die im Gebrauch oder Missbrauch von Ritalin auftauchen, aber die Ausgestanzten Buchstaben, die machen dann Kauderwelsch, vertauschen sich, sodass sie in einer Neuordnung an der Wand hängen, jetzt sind sie keine zusammenhängende Zeichen mehr, jetzt sind sie unlesbare Formen, nebeneinandergereiht. Die Tische sind so hingelegt, als wären sie Banner einer verlassenen Demonstration. Eine Person, die mir einmal sehr nah stand, nahm Ritalin, und immer wenn sie die Tabletten schluckte, schluckte sie gleichzeitig auch all ihre Gefühle.
Die Frage ist, wie schaffen wir eine Welt der Neurodivergenz? Wie ordnen wir sie neu, sodass Lehrpersonal entlastet und die Verschiedenheit unserer Gehirne gefeiert würde?
– Aline
Das Kunsthaus Zofingen präsentiert seine Wechselausstellungen zu mehrheitlich lokalen Künstler:innen, im ehemaligen Schützenhaus mit Park von 1829. Das Kunsthaus steht mit der städtischen Sammlung von Gegenwartskunst in Verbindung.
Für die Ausstellung «Mindmapping Art» waren wir drei alle zum ersten Mal hier. Der Eintritt ist umsonst. Für die aktuelle Ausstellung werden drei Künstler:innen gezeigt, Esther Ernst, Francoise Caraco und Gianluca Trifilò.
Nachdem ich zuerst ein bisschen herumirre, um mir einen Überblick zu machen, beschliesse ich mir zuerst Esther Ernsts grossformatige Zeichnungen anzuschauen. Es sind fünf Werke auf Papier. Gezeichnet mit Tusche, Kohle, Bleistift, Buntstift und Aquarell. Mit vielen Überschneidungen und unterschiedlichen Grössen, wie zum Beispiel riesigen Toblerone Stücken über einem Stadtplanfragment, wirken die Bilder collageartig. Sie zeigen Details von Topografien, Architektur, Tieren, Pilzen, Früchten, Nahrungsmittel, dokumentierten Ritualen und Bräuchen. Einiges ist so fein gezeichnet, dass ich nahe herangehen muss und so verirrte ich mich in diesen Mindmaps oder Landkarten. Mich sprechen Bilder an, in denen mein Blick suchen kann und ständig neue Details findet. Esther Ernst zeigt persönliche Auseinandersetzungen mit ihrer Umgebung durch zeichnerische Übersetzung des Beobachteten oder Recherchierten. Die Details folgen ihren eigenen Regeln und ergeben zusammen als Bild kartografische Ordnungen, welche in jedem Werk anders funktionieren.
So zeigt zum Beispiel das Werk «Orientierungsläufe» Wege, welche die Zeichnerin genommen hat, um sich die Landschaft in und um Olevano Romano zu erschliessen. Farbige sich verdichtende und dann wieder voneinander trennende Linien durchstreifen verschiedene Pläne durch Stadt und Wald, vorbei an verschiedensten Tieren und Pflanzen. Oder sie führen aus den Karten hinaus in ein verzogenes regenbogenfarbenes Schachbrettmuster und enden abrupt.
Ein zweites Werk zu Olevano Romano «Steindorf, Altstadt, Schandloch, Neubau» widmet sich eher der Geschichte des Ortes und seinem architektonischen Bild.
So porträtieren alle fünf Zeichnungen einzelne Orte wie neben Olevano Romano auch Jena, Soest und das Schilthorn. Die Werke sind faltbar und offenbar im Prozess von Ernst mitgenommen worden auf Wanderungen durch die jeweils erforschten Gebiete.
Es handelt sich also um Karten, die theoretisch benutzt werden könnten, und wenn ich es auf Ernsts Homepage richtig gesehen habe, teilweise mit Notizen und Farblegenden auf der Rückseite ergänzt sind. Im Museum sehen sie recht sauber und unbenutzt aus.
Auf kleinen Tischen zeigt Esther Ernst eingeordnete, nummerierte Zeichnungen mit zugehörigen Texten. Es handelt sich um ein Tagebuch, welches sie seit 2001 führt. Ausgestellt sind alle Tage seit 2017. Dafür benützte sie jedes Mal dasselbe Papier in DIN A5 Format. Die Zeichnungen scheinen über die Jahre hinweg recht ähnlich zu bleiben. Auch hier könnte man lange verweilen mit alltäglichen Geschichten. Ich hatte da aber bereits recht viel Zeit mit den Karten verbracht und wurde von der Aufsicht darauf aufmerksam gemacht, dass das Museum bald schliesst.
So konnte ich gerade noch das Werk «Zofinger Luft» von Francoise Caraco anschauen. In einem Videoessay präsentiert sie eine Recherche Arbeit zu ihrer Urgrossmutter. Diese lebte als Kind acht Jahre in Zofingen. Caraco erzählt über subtile Details aus der Geschichte ihrer Familie auch über die Geschichte Zofingens und der Jüdischen Minderheit dieser Zeit (ende 19. Jahrhundert). Durch die Recherche im Register der Einwohnerkontrolle, dem Geburtenregister, Liegenschaftsverzeichnis, Steuerbuch und dem Nachlass der Familie entsteht ein Bild über eine Existenz, die nicht viele Spuren hinterlassen hat. Die Lücken füllt die Künstlerin mit präparierten Vögeln, welche damals in der Stadt lebten, sowie Löschblättern aus den verschiedenen Registern. Die Löschblätter, Vogelpräparate, diverse Fotografien und einzelne Dokumente verteilen sich im ganzen Museum. Der Film findet sich zuletzt im Obergeschoss, sodass zunächst nicht ganz klar wird, was diese Fragmente zu bedeuten haben.
Schlussendlich fand ich leider keine Zeit mehr für die ausgestellten Werke von Gianluca Tifiliò. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit Sucht, Drogen und Medikamenten Konsum. Hoffentlich haben Anica oder Aline darübergeschrieben.
– Flo