Kannst auch du nicht an einem öffentlichen Bücherschrank vorbeilaufen, ohne einen Blick hineinzuwerfen? Der kleine rote Kasten am Luzerner Helvetia-Platz zieht mich an wie ein Magnet. Zuhause stapeln sich bereits die ungelesenen Bücher, doch dieser Versuchung kann ich nicht widerstehen. Ich lese Bücher, die schon gelesen wurden, die nicht frisch ab Presse sind, sondern von einer Staubschicht befreit werden müssen!

In der zweiten Ausgabe von «Gratis zum mitlesen»: Auf beiden Seiten von Lukas Hartmann.

Das Ende am Anfang

Bereits nach drei Seiten beschreibt der Autor das Ende der Geschichte, behält uns aber natürlich die wichtigen Details vor. Wir wissen kaum etwas über die Protagonist:innen und schon wird klar: jemand wird sein Doppelleben enthüllen und zwei Wochen später mit einem Schnitt in der Kehle auf dem Boden gefunden. Ich bin sofort drin in der Geschichte, wobei mir die drei Personen, welche in Form von berichten ihr Leben beschreiben, erst sehr sympathisch sind. Dies schlägt mit der Zeit aber auf die andere Seite über.

Drei Leben, unzählige Geheimnisse

Mario scheint die Hauptrolle zu spielen. Er ist zuerst ein junger Schüler, der gleichzeitig beeindruckt und eingeschüchtert von seinem Deutschlehrer, Schriftsteller werden will. Später ist er ein unzufriedener Journalist, geschieden von der Tochter des Deutschlehrers, mit zwei Kindern.

Auch der Deutschlehrer, Doktor Gruber, berichtet aus seinem Leben. Er ist derjenige mit dem Doppelleben. Er ist Lehrer, Vater von Bettina und Teil der Geheimorganisation, P-26.

Die dritte im Bunde: Karina, die Tochter des Hausmeisters im «Pentagon» in Bern und die beste Freundin von Bettina. Sie wächst mit ihrer Familie in diesem VBS (Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport) Gebäude auf, kommt vieles mit über und weiss doch nichts.

Der Fichenskandal und die P-26

Bei den Untersuchungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) wurden 1989 über 90’000 Fichen entdeckt, welche im geheimen von der Bundespolizei angelegt wurden. Dabei sind Informationen über Einzelpersonen, Menschenrechtsaktivist:innen und insbesondere über politisch linke, gesammelt worden. Darunter waren im Buch auch Mario und Karina. Wobei Karinas Vater diese Fichen bewachte.

 «Hätte ich es damals gewusst, hätte ich wohl den Kartoffelsalat über die Brüstung gekotzt.»
– Karina

Auf den Fichenskandal folgte gleich die nächste Enthüllung: Das Projekt 26. Eine Schweizer Geheimorganisation, gebildet während dem kalten Krieg, zum Widerstand, im Falle einer Besetzung. Es wurden Männer und Frauen rekrutiert, welche unter strengster Geheimhaltung, für diesen Fall ausgebildet wurden. Einer davon war Marios Deutschlehrer und Schwiegervater, Herr Gruber. Alt und dement kann Gruber dieses Geheimnis, in einem klaren Moment, endlich lüften. Doch worauf er so stolz war, reagieren andere mit Entsetzen. Seine Tochter fühlt sich betrogen und Mario, ein Pazifist, erinnert sich sofort an all die vergangen Diskussionen, die er mit Gruber zu diesem Thema hatte.

Private Zerwürfnisse neben den öffentlichen Skandalen

Des Öfteren bleiben die Charaktere voneinander fern, doch ihre Wege kreuzen sich immer wieder. Eine Reise ins damalige Ostberlin, wie auch nach Afrika, für eine Reportage, hinterlassen Spuren bei Mario. Nicht nur das Erlebte, sondern auch das Verpasste. Denn er sieht seine Kinder immer seltener und der Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern scheint er zu meiden.

Er lässt sich auf fragwürdige Beziehungen und Affären ein, wovon auch Karina ein Lied singen kann. Sie ist kurzweilig davon überzeugt, sich nur auf Männer mit dem Anfangsbuchstaben «A» einlassen zu können. Sie verliebt sich schon als Teenagerin in einen «A». Ein hohes Tier im Pentagon, der sie ab und an zu einer «Ovo» einlädt und sie über ihre Familie ausfragt. Auch im höheren Alter, scheint sie diese erste Liebe noch zu verfolgen.

 «Man müsste das eigene Leben entwirren, aber das Knäuel wird grösser, von Tag zu Tag, ein Elend.»
– Doktor Gruber

Der Ehemann einer Ex-Bundesrätin

Es ist faszinierend, wie der Autor die Charaktere in diese tatsächlichen geschichtlichen Ereignisse einzubinden weiss. Ich war überrascht, als ich herausfand, dass Lukas Hartmann 71 Jahre alt war, als das Buch 2015 erschien. Ausserdem ist er der Ehemann der Ex-Bundesrätin Simonetta Sommaruga, welche 2022 ihren Rücktritt bekannt gab, da Hartmann einen Schlaganfall erlitt.

Das Buch versetzte mich in eine andere Zeit und liess mich die damalige politische Situation nachfühlen. Ich war selbst hin und her gerissen zwischen Mitleid und Missachtung. Auch der Mauerfall wird im Buch zum Thema, wobei ich beim Lesen gerade selbst in Berlin war, was meine Vorstellungskraft natürlich zusätzlich unterstütze! Doch egal wo du dich gerade befindest, «Auf beiden Seiten» ist auf jeden Fall ein lesenswertes Buch.

Text und Illustration: Lea Windisch