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Eine legendäre Jam Session und Punk in die Fresse: Zwei Tage in Montreux am Jazz Festival7 min read

20. Juli 2023 6 min read

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Eine legendäre Jam Session und Punk in die Fresse: Zwei Tage in Montreux am Jazz Festival7 min read

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Drei Swiss-Evclusives mit Jon Batiste Jacob Collier und The Idles und eine Menge Begeisterung am 57. Jazzfestival in Montreux. Norah Jones durften wir auch noch sehen. Hier liest du, wer die magischsten Momente machte.

Vor einigen Tagen verabschiedete sich die 57. Episode des nunmehr legendären Festivals am Genfer See. Dem Sonntagabend widmen wir uns ganz den Herren im Stravinski Saal. Für seinen einzigen Europa Gig dieses Jahr lässt sich niemand Geringeres als der New Orleanser, Jon Batiste blicken. Er gehört seit seinem Hit «Freedom» zu den angesagtesten Soul und Funk-Artists der Vereinigten Staaten. Zuvor bekommen wir aber noch den minder unbekannteren 808-Piano-Virtuosen Jacob Collier auf die Ohren.

Jacob Collier im Spotlight Foto: Nora Zihlmann

Der Londoner erfreut sich bestens am Spiel mit dem Publikum. Auch er ist wie die Idles und Batiste exklusiv nur dieses Jahr in der Schweiz hier zu sehen. Leider lebt sein Live-Set doch aus überwiegenden Covern. Was ihm aber bei «Somebody To Love» von Queen ausserordentlich gelingt. Der Geist von Freddie Mercury hängt ja bekanntlicherweise seit jeher über der Kleinstadt am Lac Lemon. Der Rockstart lebte und arbeitete in den 1980ern hier. Hühnerhaut bekommt man regelrecht, wie das Publikum unterteilt wird und mitsummt. Guter Spannungsbogen, bevor der junge Grammy Gewinner sich mit «Sleeping On My Dreams» verabschiedet.

Tatsächlich hat Jon Batiste auch so ein Awardchen gewonnen und darf keine dreissig Minuten später die Bühne übernehmen. Tosender Applaus und der Mann im blauen Seidenanzug feuert los. Er hat Spass und strahlt wie Kernenergie. Seine Band bringt ihn und uns zum Tanzen. Aber alle? Nein, meint der Mann aus der Wiege der Jazz Musik:

«Where I´m from people don´t stand around like this. You´re supposed to dance and celebrate. Let´s celebrate the moment we are in. We only have this moment right now. Enjoy life and dance!»

Klare Ansage, bei der man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen kann. Stock aus dem Arsch ist also angesagt! Und der Mann hält was er verspricht. Er tanzt, trommelt mit seinem Drummer, springt und lebt, was er macht.

Batiste trommelt gerne mit. Foto: Nora Zihlmann

Als Zugabe dürfen wir noch einen neuen Track hören, dessen Titel vor lauter ausbrechender Euphorie unterging. In der für New Orleans typischen Second-Line kommt die Band samt Sängerinnen durch das Publikum und tanzt sich durch die Menge. Es geht kreuz und quer und auch wir werden tanzend-singend angelächelt, bevor er dann mitsamt der groovenden Masse Richtung Treppenhaus geht. Ja, ganz genau, mitsummend und klatschend wird der grosse Saal verlassen und gefühlt alle Zuschauer:innen schieben sich lächelnd durch die Nacht in Richtung Ausgang. Alle Bühnenakteur:innen sind verschwunden bis wir unten ankommen. Wahnsinn! Ein wirklich magischer Moment. So etwas habe ich in über 500 Konzerten, die ich so circa gesehen habe, noch nicht erlebt. Wow! Crowd rocken: 1000 Punkte Mister Batiste.

Liebt was er macht: Jon Batiste  Foto: Nora Zihlmann

Geflasht, aber gemächlich starten wir in die Nacht. Die Abkühlung lässt die Hitze des Tages vergehen. Auf dem Heimweg entscheiden wir uns dann doch für einen Abstecher ins Memphis. Die nach der nordamerikanischen Stadt benannte Location befindet sich im vorderen Gebäude des Komplexes und ist, wie man schon erahnen lässt, einer Jazz-und Bluesbar nachempfunden. Bestuhlt und betischt können dort rund 2o0 Gäste Platz nehmen. Und da schau her, sehen wir Jacob Collier am Klavier sitzen. Der wird von unterschiedlichsten Musiker:innen begleitet und erfreut sich sichtlich morgens um Drei noch ein paar Takte zu spielen. Wir ebenfalls. Zumal wir von der auftretenden Harmonie auf der Bühne wie im Saal sehr begeistert sind.

Das Publikum steht mittlerweile schon überwiegend auf den Stuhlen. Als wir dann überlegen zu gehen, erscheint kein anderer als Jon Batiste selbst am Bühnenrand hinter den Vorhängen. Er dreht die Runde und diskutiert kurz mit den Musikern und jammt gemeinsam Rücken an Rücken mit Collier. Welch ein Feuerwerk der Improvisation und guten Laune. Leider musste das Memphis um halb fünf schliessen und wir mit einem Grinsen beseelt nach Hause gehen.

Auch dieses Jahr wieder vom Sommerwetter verwöhnt. Foto: Daniel Klein

Auch der darauffolgende Abend startet ereignisreich. Leider gibt es keine Erlaubnis, am Norah Jones Konzert fotografieren zu dürfen. Dementsprechend zeigen wir uns solidarisch mit unserer Fotografin, nehmen also nur kurz ein paar Songs und die Atmosphäre wahr. Diese hatte aber bereits die Grande Dame des Souls Mavis Staples als Aufheizerin dabei. Die Lady, die mit den Staple Singers und «This May Be The Last Time» berühmt wurde, feiert mit den Festivalgästen ihren 84. Geburtstag auf der Bühne. Hut ab! Gediegen geht es zu. Die Dame liebt was sie tut. Man merkt auch hier im Publikum einen definitiven Altersunterschied zum Vortag. Wobei es und dies macht das MJF so besonders genau die Durchmischung aller Altersgruppen und sozialer Schichten, wundervoll vermischt.

Foto: Nora Zihlmann

Soweit so cool. Umbau und kurzer Blick ins «Montreux Jazz Lab» der zweiten Grossbühne, die sich im Untergeschoss des Gebäudes befindet. Wir verpassen die Wet Legs, verschnaufen und werfen stattdessen einen Blick auf die Gratisbühne, die nach einem portugiesischen Bier (Sponsoring und so) benannt wurde. Serpent machen angenehmen Krach, der zwischen Indie-Rock und Post-Funk beheimatet ist. Wunderbare Abwechslung zum Folgenden.

SERPENT auf einer der vielen Gratisbühnen

Wie bereits erwähnt «muss» unsere Fotografin zu Idles und wir dürfen um eine Audienz bei der Queen des Jazzsouls beten. Diese performt wunderschön und aalglatt. Dies passt schon irgendwie zu ihrem grünen Seidenkleid. Hier muss man wirklich nochmals der sensationellen Akustik im Saal huldigen. Dies ist aber auch immer der Arbeit der Tontechniker:innen zu verdanken. Die sowohl an diesem wie am Vortag eine super Arbeit leisten.

Ein paar Klassiker und auch ihr neues Stück «Can You Believe» bekommen wir zu hören. Sauber und toll eingespielt. Wahrlich eine Meisterin ihres Faches. Das passt dann auch, denn wir haben ein Rendezvous mit den Idles.

Hauptakteure: Joe Talbot (Gesang) & Lee Kiernan (Gitarre)

Die hauen richtig in die Tasten! Richtig krasses Kontrastprogramm, denn hier gibt’s voll aufs Maul. Brutalism Songs werden gespielt und genauso verkörpert. Wer bei den Ansagen von Joe Talbot still bleibt, hat hier entweder nichts verloren oder die falschen Betäubungsmittel konsumiert. Mit seinem weissen Hemd, dass mittig aufgeknöpft ist und dem Björn Borg-Gedächtnis-Stirnband  wirkt er mit dem Mikroständer wie ein wildgewordener Golfprofi, der gleich in der Menge eine Schlägerei anfangen will. Aber nein! Er fühlt und inszeniert seine Tracks einfach. Und das authentisch, mit Leib und Seele. Fans grölen mit, nehmen Bierduschen und auch gerne in Kauf, das Gitarrist Lee Kiernan sich von ihnen auf den Händen tragen lässt. Was in seinem gelben Jesushemdli auch wirklich episch aussieht. Ein Spektakel durch und durch. Vor dem letzten Song schreit uns Talbot nochmals an mit:

«Putain! Merci! Montreux! Fuck the King!»

Selbst zum Beginn des Konzerts volle Energie. Foto: Nora Zihlmann

Alles klar Captain, dann noch die letzte Abfahrt und Pogo bitte. Völlig nass geschwitzte Fans wringen ihre T-Shirts und Tanktops nach dem Konzert neben und vor uns aus. Die ersten zehn Reihen hat’s angenehm erwischt. Auch Bekannte aus Luzern sind begeistert, als wir sie im Treppenhaus treffen. «War die Reise wert, jetzt wieder heim. Wir waren nur deswegen hier. Den einzigen Gig im Land wollten wir uns nicht entgehen lassen.» Können wir absolut nachvollziehen. Die Bristoler Jungs haben die Hütte ordentlich abgerissen. Bis nächstes Jahr!

 

Fotos: Nora Zihlmann

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