«Unabhängig» abhängig?4 min read
Reading Time: 3 minutes- Eva Biringer erzählt im autobiografischen Plädoyer «Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen» von feministischem Trinken und ihrem persönlichen Kampf gegen die Alkoholsucht.
Biringer berichtet von einem Phänomen, bei dem vermehrt emanzipierte, gebildete und unabhängige Frauen zu Abhängigen des Ethanols werden. Somit entstehe eine neue Form der Alkoholsucht: In der Früh Yoga und glutenfreies Müsli, abends atmosphärischer Vollsuff in der Badewanne mit angezündeten Kerzen und Jazzmusik im Hintergrund. Sie selbst habe lange auch dazugehört. Nun ist sie aber nüchtern. In 336 Seiten erzählt sie, wie sie von ihrem ersten Alkoholrausch mit elf Jahren, zur endgültigen Entscheidung für die Abstinenz, gelangt ist.
«Vierzig Deutsche sterben jeden Tag durch Alkohol, mehr als im Verkehr.»
Das Buch ist in dreizehn Kapitel geteilt, wobei jedes eine bestimmte Thematik aufgreift. Es beginnt mit Erzählungen aus der Kindheit (ihrem ersten Kontakt mit Alkohol), geht dann über zu Biringers Partyjahren in Berlin und ihrer Karriere als Food Journalistin und endet mit der Entscheidung dem Alkohol für immer den Rücken zuzuwenden. Die Kapitel sind geprägt von persönlichen Erzählungen, Einschüben aus dem Geschichtsunterricht und vielen, vielen Statistiken. Auch wenn die historischen Ausführungen teilweise etwas monoton werden können und sich viele Themen wiederholen, kann man das Buch nach ein paar Kapiteln nicht mehr weglegen. Man will nur noch wissen: wie konnte die weinliebende, immer-leidende und (un)abhängige Eva mit dem Trinken aufhören?
«Scheinbar half das Trinken mit der bodenlosen Bedürftigkeit in meinem Inneren klarzukommen.»
Gründe fürs Trinken gibt es viele: Die Scheidung der Eltern und die damit einhergehende Abwesenheit des Vaters. Doch auch die Männer verleiteten Biringer zum Trinken. Jedes Mal, wenn ein Mann sie verliess, sei es ein One-Night-Stand oder eine ernsthafte Beziehung, habe sie zur Flasche gegriffen. Als Jugendliche litt Biringer zudem an einer Essstörung. Die Kontrolle über ihr Essverhalten gab ihr paradoxerweise genauso viel, wie der Kontrollverlust durch den Alkoholrausch. Aber Biringer lässt es sich natürlich auch hier nicht nehmen, Alkoholismus als gesellschaftliches Problem zu sehen. Exzessiver Alkoholkonsum sei in der breiten Bevölkerung viel zu normalisiert, dabei werden die physischen und psychischen Risiken grösstenteils ignoriert. Auch sieht sie eine Problematik mit feministischer Alkoholwerbung, welche eine Konnotation zwischen Emanzipation und Alkohol herstellt.
«Wenn ich mich frage, wie es angefangen hat mit dem Aufhören, fällt mir kein einzelner Moment ein, sondern viele.»
Interessant ist Biringers Sicht auf die bekannte Selbsthilfegruppe der «Anonymen Alkoholiker». Über fünf Seiten lang erzählt sie wieso sie mit deren Weltsicht und Zwölf-Schritte-Programm nicht einverstanden ist. Dabei gelingt es ihr wie immer einen feministischen Dreh daraus zu ziehen und gelangt schliesslich zur Feststellung, dass für einige dieses Programm passt, für sie aber nicht. Sie selbst hat eine Suchttherapie gemacht, welche sie mit ihren Leidenschaften verbunden hat: Schreiben, Sport und Meditation. Besonders gelungen ist ihre weigernde Haltung Alkoholismus als endgültige Krankheit zu sehen: Man kann eine Zeit lang von Alkohol abhängig sein, jedoch muss man sich nicht sein Leben lang damit identifizieren, so wie es die Anonymen Alkoholiker eben tun. Sie appelliert: man ist nicht seine «Krankheit» und man besitzt die Handlungsmacht dagegen etwas zu tun.
«Ich hatte getrunken, um zu einer anderen Version meiner selbst zu werden, tough, stolz, emanzipiert. Das Verrückte: In dem Moment, in dem ich damit aufhörte, bin ich genau das geworden.»
Es handelt sich um ein aufklärendes, motivierendes Plädoyer, welches einem dazu bringen soll, das eigene Trinkverhalten zu hinterfragen. Sie zeigt auf, dass die Entscheidung zur Abstinenz, die Therapien und die Wege dahin ganz unterschiedlich sein können. Mit diesem Buch kann sie vielen Menschen Mut schenken. In gewissen Absätzen wird Biringer unglaublich ehrlich und offen und lässt einen dadurch in ihr tiefes, nachdenkliches und verletzliches Innere rein. Auch wenn die faktischen Abschnitte zu Alkoholismus interessant sind, sind es diese ehrlichen Momente, welche das Buch unterhaltend und fast schon süchtig (ja, das Wort wurde bewusst gewählt, denn «süchtig» kann man laut Biringer nach allem werden) machen. Sie hat ein Talent dafür die Leser*innen in ihre Welt zu transportieren und Geschichten atmosphärisch rüberzubringen. Am Ende hat man das Gefühl Eva wirklich zu kennen und fiebert mit jeder Seite mit, dass sie es endlich schafft den Alkohol «loszulassen».
Text: Elena Luna Dima
Fotos: Florian Reimann