Kann Geschichtsschreibung uns vor dem Klimawandel retten?7 min read
Reading Time: 5 minutesDer indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat als Antwort auf die globale Klimakrise die Idee der Planetarität entwickelt. Dieser Begriff eröffnet neue Sichten auf Geschichtsschreibung und Politik, fordert unser menschzentriertes Denken heraus, wirft aber auch Fragen auf.
Ein Text von Jaro Kerschbaum
Vortrag trotz Prüfungsstress?
Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich kommen wollte an diesem Abend, denn eigentlich war Prüfungsphase und ich hatte genug zu tun. Aber, dass der bedeutendste post-koloniale Historiker unserer Zeit nach Zürich kommt, passiert nun wirklich nicht alle Tage, und das Thema ist eines, das mich sehr interessiert. Darum eile ich um kurz vor 18 Uhr in den Gummibärlisaal mit einer Handvoll anderer Studierender und Dozierender. Alle sind gespannt darauf, was der Gastredner zur Klimakrise sagen wird. Dipesh Chakrabarty ist Professor für Geschichte und Südasiatische Kulturen an der University of Chicago. Bekanntheit erlangte er vor allem durch seinen Essay Provincializing Europe, ein Manifest der post-kolonialen Geschichtsschreibung, in dem er, sehr überzeugend, gegen eine eurozentrische Geschichtsschreibung argumentiert.
Geschichtsschreibung in Zeiten des menschengemachten Klimawandels
Seit einigen Jahren beschäftigt er sich vor allem mit einem weiteren Thema: Der Geschichtsschreibung in Zeiten des menschengemachten Klimawandels. Diesbezüglich prägten viele Forschende in verschiedenen Feldern den Begriff des Anthropozän, als eine geologische Epoche, in der die Erde vom Menschen massgeblich beeinflusst wird. In der Untersuchung der Beziehungen von Geschichtsschreibung, Subalternität (Forschung aus der Perspektive von marginalisierten Bevölkerungen) und der globalen Klimakrise verwendet Chakrabarty aber den Begriff der Planetarity oder Planetarität. Dieses Konzept stellt Chakrabarty an jenem Dienstagabend an der Universität Zürich vor, ebenso wie in einem späteren Auftritt in der «Sternstunde Philosophie» und in seinem Buch The Climate of History in a Planetary Age. Doch was ist das eigentlich und wie nützlich ist diese Idee?
Wieso nicht Anthropozän?
Chakrabarty erklärt zuerst, weshalb er vom Begriff des Anthropozän weggekommen ist. Als Historiker möchte er diese Bezeichnung einer geologischen Epoche den Forschenden der Erdsystemwissenschaften überlassen, da diese viel qualifizierter sind, zu erklären, wann und wie dieses Zeitalter begann. Zudem weiss niemand wie lange die Handlungen der Menschheit das Ökosystem der Erde beeinflussen werden, sodass der Begriff die Dringlichkeit eines Handelns gegen die globale Klimakrise nicht beinhaltet. Weiter verweist er darauf, dass das Wort Anthropozän die Menschheit als ein Ganzes für die Zerstörung der Umwelt zur Rechenschaft zieht, während der Grossteil dieser Zerstörung nur von einer winzigen Gruppe von westlichen Kapitalisten (meist Männer) ausgeht und man darum, wenn schon, von einem Capitalocene sprechen müsste.
Eine neue Perspektive
Im Gegensatz oder als Ergänzung dazu möchte Chakrabarty von Planetarität sprechen. Dies ist eine Idee, die er vor allem im Kontrast zum weitverbreiteten politischen Denken in globalen Kategorien definiert. Während das Globale auf den Verbindungen zwischen allen Menschen basiert, umfasst das Planetäre das ganze Erdsystem. Dies sind neben den Menschen auch die nicht-menschlichen Lebensformen und die komplexen Zusammenhänge der Natur. Es ist eine Ausweitung des subalternen Prinzips der Dezentrierung der Norm (weiss, männlich, europäisch), das Chakrabarty auch in den post-colonial studies vertrat. So wird durch die Sicht auf das Planetäre der Mensch grundsätzlich aus dem Zentrum des Blickfelds gerückt. Schliesslich macht er sowohl zeitlich als auch räumlich betrachtet nur einen kleinen Teil des ganzen Systems aus. Chakrabarty tritt somit klar in die Tradition des modernen Anti-Humanismus, der die traditionelle humanistische Idee der Menschheit als einzigartig und unabhängig von äusseren Einflüssen kritisiert. Diese Perspektive kann auf neue Verbindungen zwischen Mensch und Natur aufmerksam machen, die sowohl positiv als auch negativ sein können.
Über das Menschliche hinaus
Dieser Blick wirkt anders als der human exceptionalism, der in anderen Lebewesen und der Natur nur eine Ressource der Ausbeutung sieht. Er reduziert den Menschen stattdessen auf seine bestialischen Instinkte und zeigt, dass wir trotz Aufklärung und Atomwaffe immer noch Produkt und Mitproduzent desselben Systems wie ein Frosch sind. Der Exzeptionalismus wird weiter relativiert durch die Idee, dass der Planet sich nicht um uns kümmert: Die Menschheit ist zwar auf das weitere Funktionieren des Erdsystems angewiesen. Dieses läuft aber auch gut weiter, wenn wir nicht mehr existieren. So sollte eine ökologische Politik, die im Zeichen der Planetarität geschieht, nicht so sehr auf Sustainability, also Nachhaltigkeit nur für kommende Generationen von Menschen achten. Vielmehr sollte auf Habitability, also die Bewohnbarkeit des Planeten für alle Lebensformen, geachtet werden. Diese Perspektive ermöglicht zudem eine Brücke zu schlagen über die Grenze zwischen Humanwissenschaften und Naturwissenschaften, die für die Bewältigung der drohenden Klimakrise unumgänglich ist. So kann man (Human-)Geschichte und Naturgeschichte wieder zusammenführen, indem man betrachtet, wie der Mensch trotz seiner besten Versuche immer durch seine Umwelt definiert wird. So die Idee wie ich sie verstehe, wobei man anfügen muss, dass dies nur eine kurze und deshalb unvollständige Zusammenfassung ist, die den Ideen des grossen Historikers nicht gerecht werden kann.
Meine Gedanken zur Planetarität
Äusserst gelungen an diesem Konzept finde ich die Betonung der komplexen Verflechtungen zwischen Menschen und Natur. Insbesondere sein Fokus auf den Einfluss des Planeten auf die Menschheit kritisiert ein zu simples Bild vom Menschen als «Herr der Natur». Die Vorstellung der Erde als passives Objekt, die nur für die Nutzung der Menschen bereitliegt, ist ein wesentlicher Bestandteil der ideologischen Grundlage der Gesellschaft, die unser jetziges Schlamassel herbeigeführt hat. Jeglicher Versuch diese Mentalität zu hinterfragen und Alternativen dafür zu liefern, ist sehr wichtig. Für die historische Forschung eröffnet dieser Gedanke zudem ein neues Feld, das sicher viele Erkenntnisse liefern wird und darum unbedingt weiterverfolgt werden soll.
Meint er das ernst?
Dennoch stelle ich mir hinsichtlich dieser Idee zwei Fragen. Die Erste betrifft die Dezentrierung des Menschen und die damit einhergehende Fokusverlagerung von Sustainability auf Habitability. Es wirkt so, als sei Habitability eine grundlegendere und einfachere Kategorie als Sustainability, bei der es nur darum geht, dass irgendeine Lebensform weiterexistiert, egal wie viele Tier- und Pflanzenarten aussterben, inklusive der Spezies Mensch. Ein solcher Fokus würde eine Bekämpfung des Klimawandels enorm rücksichtslos machen, da man mit diesem Ziel auf keine einzelnen Lebensformen Rücksicht nehmen müsste, solange das Leben an sich weiterexistiert. Oder schlimmer noch: Es müsste gar nichts gegen die Klimakrise getan werden, denn solange irgendeine Lebensform noch leben kann, wäre es egal ob alle anderen aussterben. Ich glaube nicht, dass Chakrabarty dies ernsthaft vertritt. Vielleicht meint er mit Habitability vielmehr die Bewohnbarkeit des Planeten für möglichst viele anstatt nur für irgendwelche Lebensformen, sodass es über die mensch-orientierten Ziele der Sustainability hinausgeht. Dies würde ich unterstützen, wenn auch die Umsetzung sicher schwierig wäre. Chakrabarty müsste jedoch klarer formulieren, dass Habitability nicht weniger, sondern mehr als Sustainability ist.
Was bringt Geschichte eigentlich?
Meine zweite Kritik ist etwas grundlegender und sie ist auch eine Selbstkritik, da ich selbst Geschichtsstudent bin. Angesichts der drohenden und teils schon präsenten Katastrophe der menschengemachten Klimakrise, geben sich die Naturwissenschaften alle Mühe neue Technologien zu finden, um der Menschheit zu helfen. Das Beste, was die Geisteswissenschaften anbieten können, ist ein weiteres abstraktes Konzept, über das wir streiten sollen? Es ist ein wenig fragwürdig, inwiefern diese Idee in unserer jetzigen Situation helfen kann. Vielleicht ist das auch zu viel von ihr verlangt.
Eine Einladung weiterzudenken
Neben dieser grundlegenden Beobachtung möchte ich abschliessend sagen, dass das Konzept der Planetarität, wie Chakrabarty es entwickelt hat, einige sehr spannende neue Perspektiven für historische Forschung eröffnet. Auch in weiteren gesellschaftlichen Sphären, insbesondere in der Politik, hilft es, die vielfältigen Verbindungen zwischen Menschen und Erdsystem genauer in Betracht zu ziehen, um von einem einseitigen Verständnis der menschlichen Besonderheit wegzukommen. Alles in allem lohnt sich die eigene Auseinandersetzung mit den Ideen Chakrabartys und die weitere Diskussion über die komplexen Beziehungen zwischen Menschen und Natur. Ich jedenfalls bin froh, dass ich diesen eindrücklichen und herausfordernden Vortrag hören durfte und lade euch ein, mit mir weiter darüber nachzudenken.
Bild: zvg von Jolanda Fazzone SRF